Wald: Interessant sind Ihre Ausführungen zum Agility Gap. Können Sie dies kurz erläutern und darstellen, wie diese Lücke überwunden werden kann?
Mollbach: Unter Agility Gap verstehen wir in unserer Studie zunächst einmal die Differenz zwischen der Anforderung der Unternehmen an ihre Realisierung von Agilität (Soll) und der zugeschriebenen Agilität (Ist). Wie schon oben erläutert, beruht das aufgrund der gewählten Methodik allein auf Selbstzuschreibung. Die Mehrzahl der Teilnehmer geben an, dass aufgrund des zunehmenden Umweltdrucks ihre Unternehmen sensitiver und reagibler sein müssten als sie es derzeit sind. Damit steht die Mehrzahl der teilnehmenden Unternehmen vor der Aufgabe, die Metakompetenz Agilität zu entwickeln oder weiterzuentwickeln bzw. deren Entwicklung durch entsprechende Maßnahmen zu fördern. Dies geschieht durch die gezielte Förderung der Enabler von Agilität. Aus Sicht der Teilnehmer sind vor allem solche Enabler wie „Aus Fehlern wird nachhaltig gelernt“ oder „Starke Vertrauenskultur mit vielen Freiräumen“ wichtig. Weniger agile Unternehmen unterscheiden sich von eher agilen Unternehmen vor allem darin, dass das Topmanagement Letzterer schnell Entscheidungen trifft oder das Systeme und Verfahren so gestaltet sind, dass sie auch auf kurzfristige Veränderungen reagieren können.
Wald: Damit sind wir bei den Enablern der Agilität. Bei diesen taucht in fast jedem Punkt die „Führung“ auf. Aufschlussreich ist auch, dass Sie für einige Enabler deutliche IST-SOLL-Diskrepanzen gefunden haben. Diese sind die Ursache dafür, dass die Führungsspitzen von Unternehmen derzeit oft zu langsam und rückwärtsgewandt handeln. Dies kann ich aus eigenem Erleben bestätigen. Was kann dagegen unternommen werden? Stehen sich die Akteure hier nicht manchmal selbst im Weg?
Mollbach: Das ist so. Zum einen findet sich in nicht wenigen Unternehmen zumindest eine schleichende Zentralisierung von Entscheidungen. Es werden immer mehr Entscheidungen an das Top Management delegiert bzw. das Top Management zieht diese– manchmal schleichend – immer mehr an sich heran. Meine Vermutung ist, dass hierfür auch die zunehmenden IT-Möglichkeiten in Unternehmen verantwortlich sind. Dadurch entsteht in Unternehmen nicht selten ein Entscheidungsstau an der Spitze. Teilweise fehlen Top Managern dann aber auch notwendige Informationen und Erfahrungshintergründe, vor allem dann, wenn Entscheidungen von Informationen abhängen, die man nicht in Zahlen pressen kann. Es entscheiden dann Personen über Felder und Kontexte, in denen sie selbst nicht aktiv sind, was zu Fehlentscheidungen führen kann. Hier ist es sicherlich wichtig, Entscheidungen und Problemlösekompetenzen wieder in der Organisation dorthin zu verlagern, wo Wissen, Fähigkeiten und Felderfahrungen sitzen. Das Top Management sollte hier eine „Entscheidungsdiät“ vornehmen. Und das ist schwieriger als man glaubt. Die Verführung – gerade durch moderne IT-Systeme und Medien – ist groß. Vor allem in Großunternehmen kommt hinzu, dass bei Fehlentscheidungen immer der Chef an der Spitze verantwortlich gemacht wird. Auch die Medien und die Öffentlichkeit gehen immer noch von dem traditionellen Bild aus, dass der Chef an der Spitze alles wissen und entscheiden muss. Ein Bild des „heroischen Managers“, das in Anbetracht der komplexen Welt mehr und mehr out ist. Hier sind also auch die Medien und Berater, Professoren der Betriebswirtschaft etc. gefragt, die Funktion des Top Managements zu „entheroisieren“.
Ein weiteres wichtiges Ergebnis unserer Studie ist, dass sich weniger agile Unternehmen an der Vergangenheit orientieren. Das ist wahrscheinlich auch der Grund dafür, dass neu gegründete Unternehmen oft agiler sind als Unternehmen mit einer langen Tradition. Besonders dann, wenn sie in der Vergangenheit erfolgreich waren. Wir kennen das ja auch aus dem individuellen Verhalten: Waren wir in etwas über eine lange Zeit erfolgreich, versuchen wir die Strategien und Methoden, die wir damals angewandt haben, immer wieder zu verwenden, selbst dann, wenn sich der Kontext wesentlich geändert hat. In der Betriebswirtschaft spricht man hier von Pfadabhängigkeit. Über die Zeit wird der Suchraum für Lösungen nicht größer, sondern kleiner. Deshalb braucht es in Organisationen aus meiner festen Überzeugung Diversity – und das nicht aus gesellschaftspolitischen Gründen, sondern um Agilität zu fördern. Homogenität und eingefahrene Muster und Routinen – so sehr sie aus Komplexitätsentlastungsgründen notwendig und verführerisch sein können, können nur aufgebrochen werden, wenn „Anderssein“ und „Andersdenken“ nicht als Bedrohung, sondern als Impuls zum Neudenken wahrgenommen wird. Hier besteht gerade auf Managementetagen noch der eine oder andere Nachholbedarf.
Ausprägung der Einflussfaktoren (Driver) in den Umwelten der teilnehmenden Unternehmen |
Wald: Sie betonen die Anwendung von Social Media in den Unternehmen. Wie sollte mit der dabei entstehenden Transparenz umgegangen werden? Eine Vertrauenskultur entsteht doch nicht im Selbstlauf? Oder?
Mollbach: Das sehe ich genauso. Ich glaube, der große Fehler, der in vielen Unternehmen gemacht wird, liegt darin, dass „Social Media“ zu einem Spezialthema oder einem reinen IT-Thema gemacht wird. „Social Media“ ist aber viel mehr: Es greift in die Strukturen und Prozesse, auch in die Machtgefüge von Unternehmen ein. Nicht wenige Unternehmen versuchen dies dadurch in den Griff zu bekommen, dass sie Guidelines zum Gebrauch entwickeln. Nichts gegen Guidelines, die sind sicher bis zu einem gewissen Grad notwendig. Es muss aber allen bewusst sein, dass es hier einen Grundkonflikt zwischen den Prinzipien der klassischen Führungsorganisation und denen der „Social Media“ gibt. Wer das sehr deutlich mitbekommt, sind vor allem Führungskräfte der mittleren und unteren Führungsebene. Delegations-, d.h. Auftragsbeziehungen, Kommunikations- und Wissenswege sind in vielen Unternehmen bereits viel vernetzter als es dem klassischen Organisations- und Führungsbild entspricht. Meiner Einschätzung nach gibt es hier keine Patentlösung. Ich glaube aber, dass ein erster Schritt wäre, eine solche Diskussion in den Unternehmen überhaupt zu initiieren. Das bedeutet unter Umständen aber auch die Bereitschaft, Kontrolle und Macht abzugeben. Oder besser ausgedrückt: Kontroll- und Machtansprüche abzugeben.
Wald: Die folgende Frage habe ich auch Frau Dr. Hofmann vom IAO Stuttgart gestellt: Wie werden sich die Verhaltensweisen von Führungskräften unter den neuen (hier: agilen) Bedingungen ändern müssen? Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an zum Teil sehr lebhafte Diskussionen mit Führungskräften. Eine Fraktion war der Auffassung, dass so wie bisher geführt werden kann – die andere Gruppe sprach von einem beträchtlichen Druck anders als bisher zu führen. Was meinen Sie?
Mollbach: Ich denke, dass das je nach Unternehmen unterschiedlich sein kann. So wie ja auch die Metakompetenz Agilität nicht von allen Unternehmen gleich entwickelt werden muss. Es gibt sicher auch in Zukunft Unternehmen, deren Umwelt mehr durch Stabilität, Transparenz, Einfachheit etc. gekennzeichnet ist als die Umwelt anderer Unternehmen. Auf das Thema Führung und Führungsorganisation übertragen heißt das, dass der Veränderungsdruck hier sehr unterschiedlich sein kann. Es kann durchaus sein, dass sich Führungskonzepte und Führungsorganisationen in Zukunft noch viel mehr ausdifferenzieren werden (zum Leidwesen solcher Trainer und Berater, die gerne standardisierte Konzepte über alle Unternehmen ausbreiten).
Dennoch glaube ich, dass sich in der Tendenz Führungskonzepte und Konzepte von Führungsorganisationen deutlich verändern werden. Wie stark dies in die Grundarchitektur von Führung – der Hierarchie, der Zuordnung von Führungs- und Managementaufgaben und -verantwortung zu Stellen und Personen – eingreifen wird, bleibt offen. Hier gibt es ja durchaus interessante, aber eben auch offene Diskussionen.
Wald: Was entgegnen Sie Lesern Ihrer Studie, die sagen, einige der Vorschläge im letzten Teil der Studie sind nicht neu?
Mollbach: Ich würde dem Leser zum Teil Recht geben! Das Entscheidende aber ist, dass der Kontext in vielen Aspekten neu ist. Ich möchte Ihnen ein Beispiel nennen: Wir empfehlen z.B. die Delegation von Verantwortung von „oben“ nach „unten“. Dies ist ja nichts anderes als Empowerment. Das ist kein neues Konzept. Der Unterschied scheint mir aber der Kontext zu sein: In der Vergangenheit war ja Empowerment zumindest in der Unternehmenspraxis in weiten Teilen als ein Motivationskonzept verstanden worden: Wir machen das als Management (zähneknirschend), um die Mitarbeiter zu motivieren (obwohl wir die Entscheidungen eigentlich besser treffen könnten…). Im Kontext „Agilität“ geht es aber gar nicht um das Thema Motivation, sondern um die Förderung von Reagibilität. Zudem kommt es gar nicht auf die einzelne Maßnahme, sondern auf die Gesamtkomposition einer Fülle von Maßnahmen in unterschiedlichen Feldern der Organisation an. Das kommt mir in vielen Ausführungen zu Maßnahmen zur Agilität zu kurz. Deshalb sprechen wir ja auch von der Notwendigkeit eines gesamtorganisationalen Agilitätskonzeptes, an dessen Erarbeitung alle Bereiche und Funktionsgruppen eines Unternehmens arbeiten. Denn es kommt hier auf die Multiperspektivität an. Ich habe ja schon oben dargestellt, dass viele Organisationen immer noch in der Routine gefangen sind, auch vernetzte und multiperspektivische Themen entweder ganz einem Fachbereich zuordnen zu wollen oder aber in kleine isolierte Pakete zu zerschneiden und dann verschiedenen Spezialisten zuzuordnen, die dann kaum oder gar nicht (mehr) miteinander reden. Die große Gefahr ist, dass dies auch mit dem Thema Agilität passiert. Dann würde z.B. der Personalbereich beauftragt, ein Projekt zur Förderung der Agilität zu initiieren. Es würden z.B. Leitsätze entwickelt, Führungskräfteschulungen veranstaltet etc. Aber was ist mit den Planungsprozeduren in Organisationen: Der Controlling-Bereich wäre dann vollkommen außen vor und hätte mit dem Thema „Agilität“ gar nichts zu tun, denn das wäre ja bei einem solchen Vorgehen ein reines „Personalthema“. Unser Plädoyer: Bevor man sich auf eine Maßnahme stürzt – es wäre viel gewonnen, wenn das Thema als ein gesamtorganisationales Thema verstanden würde, bei dem sich alle Beteiligten an einen Tisch setzen und die Multiperspektivität und Vernetzung ihrer Themen erkennen und dies in ein gemeinsames Agilitätskonzept einbringen. Hier darf es dann auch nicht „mein Thema“, „mein System“ oder „meine Maßnahme“ und „dein Thema“, „dein System“ oder „deine Maßnahme“ geben. Aber kennen Sie viele Beispiele von Unternehmen, in denen z.B. Verantwortliche aus der Personalabteilung und aus der Controlling-Abteilung gemeinsam Controlling- und Personalinstrumente und -systeme diskutieren und gestalten auf der Grundlage eines gemeinsamen gesamtorganisationalen Konzeptes oder Verständnisses? Das wäre bei Agilität aber grundlegend notwendig!
Wald: Ich sehe dies ähnlich. Ich danke Ihnen ganz herzlich für dieses informative und offene Gespräch. Für die Zukunft wünsche Ihnen weiterhin viel Erfolg!
Mein Interviewpartner Achim Mollbach |
Hallo,
AntwortenLöschenwo kann ich denn die Studie bekommen?
Beste Grüße,
Jana Buchholz
Liebe Frau Buchholz,
AntwortenLöschender Link befindet sich im letzten Satz des Interviews.
Mit freundlichen Grüßen
Peter M. Wald