Wald: Herzlichen Dank für die Möglichkeit mit Ihnen noch vor dem morgigen Event zu sprechen. Starten wir mit einer eher grundsätzlichen Frage. Überall ist vom Fachkräftemangel zu lesen. Jeder Personaler kennt Geschichten über Schwierigkeiten bei der Stellenbesetzung. Warum sind Sie trotz dieser weit verbreiteten Annahme zu der Auffassung gelangt, dass es sich beim Fachkräftemangel um einen Mythos handelt?
Gaedt: Wenn ein Unternehmen darüber jammert, dass es zu wenig Kunden hat, was raten Sie ihm? Er soll mehr Marketing und Vertrieb machen! Wenn ein Unternehmen über zu wenige Fachkräfte klagt, rate ich zu mehr Marketing und Vertrieb im Recruiting. Aber bitte so wie ein Fußballscout – draußen wo die Kicker sind – und nicht am Schreibtisch. Da kommt keine Fachkraft vorbei. „Fachkräftemangel“ ist die gesellschaftlich anerkannte Ausrede für langweiliges Recruiting. Es gibt sehr viele Mängel: Mangel an Willkommenskultur, Mangel an Lohnzahlung, Mangel an Respekt, Mangel an Unternehmenskultur, Mangel an Antworten auf Bewerbungen - 40 Prozent aller Bewerbungen bleiben unbeantwortet - und viel mehr, dass Bewerber und Mitarbeiter erfolgreich vertreibt. Nur einen Mangel an Fachkräften erkenne ich nicht.
Wald: In Ihrem Buch gehen Sie mit den möglichen Protagonisten des Fachkräftemangels nicht gerade zimperlich um. Haben Sie die breite Resonanz und die überwiegend positiven Stimmen zum Buch überrascht?
Gaedt: Ich hätte mit deutlich mehr Widerspruch gerechnet. Ich höre leider nur Zustimmung. Einer brachte es auf den Punkt: „Man kann Ihnen nicht widersprechen, weil Ihre Fakten zu gründlich recherchiert sind und Sie leider Recht haben.“ Natürlich gibt es auch Personaler, die mein Buch nicht gelesen haben und dabei bleiben, dass sie bereits ALLES Mögliche tun und dennoch keine geeigneten Bewerber finden. Spätestens wenn sie mir sagen, was sie ALLES unternehmen, stellen wir fest, dass die eingesetzten Recruiting-Tools identisch sind mit dem, was ALLE anderen Firmen auch machen. Ohne Alleinstellung keine Unterscheidung und keine Attraktivität. Basis jedes Marketings.
Wald: Was macht Sie so sicher, dass der Fachkräftemangel eher ein vorgeschobenes Argument für eine falsch angepackte Personalbeschaffung ist?
Gaedt: Weil es nachweislich Millionenfach Potenziale gibt. Eine Million deutsche Schüler ohne Schulabschluss seit 1999. Die Deutsche Bahn, ein Bauunternehmen im Emsland, ein Fuhrunternehmer in Rostock machen vor, wie aus den vermeintlichen Versagern die wertvollsten und treuesten Mitarbeiter werden. 14 Millionen deutsche Angestellte sind wechselwillig. Sie warten nur auf ein attraktives Angebot. In Europa haben wir die höchste Arbeitslosenquote seit 1990. Über eine Million deutsche Akademiker leben im Ausland – erfolgreich vertrieben, aber mit attraktiven Angeboten zurück zu gewinnen. Indiens Bevölkerung wächst um 15 Millionen Menschen pro Jahr. 300.000 hochqualifizierte Bewerber bewerben sich dort auf 5.000 IT-Studienplätze. Könnten 295.000 bei uns ausgebildet werden. Deutschland hat seit 2012 gerade einmal 7.000 Blue Cards ausgegeben. Davon 4.000 an Menschen, die bereits in Deutschland lebten. Warum so lächerlich wenig? Und wer sagt, dass Azubis frisch von der Schule kommen müssen. Es gibt längst 50jährige Azubis, deren Chefs sind begeistert. Die besten Azubis, die sie hatten. Wer rechts und links vom Mainstream schaut, hat nie Mangel.
Wald: Lässt man die von Ihnen angestoßene Diskussion zu, fällt auf, dass es neben Aha-Effekten auch viel Zustimmung zu Ihren Aussagen gibt. Haben Sie eine Erklärung dafür, dass es trotzdem vielen Unternehmen schwer fällt, Änderungen bei der Rekrutierung anzustoßen und zuzulassen?
Gaedt: Die geliebte Gewohnheit. Gäbe es Fachkräftemangel in dem Ausmaß wie er behauptet wird, wären wir alle viel kreativer im Recruiting. Noch sind es ein paar Insider, die begeistert neue Wege testen, darüber reden und bloggen. Das Gros der Unternehmen macht so weiter wie bisher; oft einfach mehr vom Altbekannten. Noch eine Bewerbermesse. Noch eine Stellenanzeige. Dass es inzwischen 1.583 Stellenbörsen gibt, aber nur noch eine Minderheit von Jobsuchenden Stellenanzeigen liest, wissen Personaler nicht. Während dem Nachwuchs Mängel im Rechnen unterstellt werden, ist es simple Mathematik, die Personaler und Verbände nicht beherrschen: Immer mehr Stellenbörsen, immer weniger Jobsuchende, die Stellenbörsen nutzen, bringt weniger Bewerbungen. Das ist daher KEIN Beleg für Fachkräftemangel.
Wald: Sie sprechen vom „Abwimmeln“ guter Bewerber. Dazu eine „böse“ Frage: Sind vielleicht die falschen Menschen für die Rekrutierung neuer Mitarbeiter verantwortlich? Liegt es am Stellenwert des Umgangs mit Bewerbern?
Gaedt: 100 Prozent „JA“. Die klassische Personalabteilung ist ausgebildet für Verwaltung: Bewerberstapel abarbeiten, Arbeitsverträge, Tarifverträge, AGG, Abmahnung, Entlassung. Für Recruiting im Sinne von kreativem Marketing sind die meisten Personalverantwortlichen weder ausgebildet noch vom Typ her geeignet. „Ist die kreative Aktion auch rechtlich wasserdicht?“, so würde ein Vertriebler nie fragen. Hauptsache er gewinnt den Auftrag oder eben im Recruiting den Mitarbeiter. Hinzu kommt, dass häufig das Bewerbermanagementsystem genau die Kandidaten verprellt, die man so dringend sucht. Deutsche Unternehmen haben erfolgreich Millionen hochqualifizierte Akademiker verprellt. 83 Prozent aller deutschen Auswanderer, die länger als zwei Jahre im Ausland leben, sind Akademiker. Aber nur 15 Prozent aller Deutschen haben einen akademischen Abschluss. Wir sind das Land der dualen Ausbildung. 56 Prozent aller Deutschen haben eine Berufsausbildung. 2007, 2011 und 2012 haben konstant 64 Prozent aller Schulabgänger eine duale Ausbildung begonnen. Selbst diese Fakten kennt so gut wie kein Personaler. Es interessiert sie gar nicht.
Wald: Welche kurzfristigen Maßnahmen empfehlen Sie den Unternehmen, um potenzielle Mitarbeiter besser zu erkennen und zu erreichen? Scheitert dies – wie oft zu hören ist – an den zu hohen zeitlichen und finanziellen Aufwendungen?
Gaedt: Ein Unternehmen hat 20 potenzielle Mitarbeiter identifiziert und ihnen je ein Handy geschickt. Eingespeichert war nur eine Nummer, die des neuen Arbeitgebers. Das ist überraschend, wertschätzend und nicht mal teurer als Stellenanzeigen. Ein anderer Unternehmer bietet samstags Schülerjobs an. Jedes Jahr findet er so seine 2 Azubis. Alle wissen, worauf sie sich einlassen. Keine Abbrüche. Wir haben einen Mitarbeiter über Twitter entdeckt. Da aber kaum ein Personaler Twitter nutzt, geht so ein Kandidat komplett am Radar vorbei. Ein Drittel aller Unternehmen könnte zwei Drittel aller Betriebe mit Top-Bewerbern versorgen. Sie müssten nur die Bewerber, die sie bereits in der engeren Wahl, also als besonders geeignet identifiziert haben, ins Unternehmensnetzwerk der Region oder Branche weiterempfehlen. Klingt einfach. Ist einfach. Und clever. Cleverer als der Mehrzahl guter Bewerber Absagen zu schicken.
Wald: Gibt es daneben auch langfristige Möglichkeiten („HR Innovationen“) um Fachkräfte und Unternehmen zusammenzubringen?
Gaedt: Was im Einkauf und in Forschung & Entwicklung längst üblich ist, ist im Recruiting neu: Kooperation mehrerer Unternehmen einer Region oder Branche. Recruiting in Kooperation bietet Mehrwerte, die nur in Zusammenarbeit erzielt werden können: Erstens 100 Prozent bereits vorausgewählte Top-Bewerber. Zweitens Prämien von 490 bis 3.700 Euro für jede erfolgreiche Empfehlung. Drittens Wertschätzung aller Bewerber in der engeren Wahl und dadurch viertens positives Employer Branding trotz Absagen. Statt Fachkräfte, Azubis und Absolventen durch Absagen zu verschwenden, werden gute Bewerber einfach und Datenschutzrechtlich korrekt kooperierenden Unternehmen empfohlen. Die Bewerberqualität im ganzen Netzwerk steigt. Mit passenden Bewerbern wird dem drohenden Fachkräftemangel einer Region oder Branche vorgebeugt und durch die Empfehlungsprämie sogar Umsatz erzielt. Warum machen das nicht längst alle Unternehmen? Solange Top-Bewerber, die Crème de la Crème einer Region oder Branche, durch Absagen verschwendet werden, kann mir keiner was vom Fachkräftemangel erzählen.
Wald: Lieber Herr Gaedt, herzlichen Dank für das interessante Gespräch. Ich bin schon gespannt auf die Diskussionen mit Ihnen!
Kommt zum HR Innovation Day nach Leipzig - Martin Gaedt |
Toller Artikel! Um dem demografisch bedingten Rückgang der Erwerbsbevölkerung entgegenzuwirken, sind mehrere Lösungsansätze denkbar: Der frühere Eintritt in das Erwerbsleben, der spätere Austritt aus der Erwerbsphase, eine Erhöhung der Frauenerwerbstätigkeit sowie der Zuzug von ausländischen Arbeitskräften.
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