Ich: Irma und Rainhart, vielen Dank, dass ich Euch einige Fragen zum Lehrbuch und zur Führung stellen kann. Meine erste Frage lautet: Eigentlich gibt es doch recht viele Lehrbücher zum Thema Führung, warum habt Ihr Euch entschlossen, ein eigenes Buch vorzulegen?
Irma: Die große WARUM-Frage! Diese hat uns damals auch der Verlag gestellt: warum ein Lehrbuch zum Thema „Führung“ angesichts der angeblich massiven Konkurrenz. Zum Zeitpunkt der Kontaktanbahnung mit dem Verlag hatten wir bereits die gleichnamige Vorlesung im Masterstudiengang an der TU Chemnitz mehrfach angeboten und kannten die Literaturlage mehr oder weniger gut: Es gab kein Buch, das auf Deutsch all die für uns interessanten Führungstheorien auf die Weise behandelt, wie wir es gern wollten: übersichtlich, ansprechend und anspruchsvoll zugleich, ohne zu sehr ins Theoretische oder ins Normativ-Praktische abzugleiten. Auch wenn wir in unseren Vorlesungen häufig auf „Führen und führen lassen“ von Oswald Neuberger oder „Personalführung“ von Jürgen Weibler zurückgriffen, konnten wir diese beiden und auch andere Texte nicht zu allen behandelten Themen empfehlen. Es gab also keine sogenannte „Grundlagenliteratur“ für unsere Studierenden. Vielmehr mussten wir für jede Führungstheorie unterschiedliche Texte aus verschiedenen bisherigen Lehrbüchern und Zeitschriften zusammensuchen, die zudem oftmals auf Englisch waren, was unseren Studenten nicht selten ein unüberhörbares Stöhnen entlockte. Eine weitere, nicht minder berechtigte Frage wäre auch, warum überhaupt ein Lehrbuch? Warum kein neuer E-Learning Kurs oder keine Video-Serie zum Thema bei youtube? Das Format Lehrbuch mag sich archaisch anhören, aber mich reizte die Aussicht, anstatt von unliebsamen Power Point Folien schriftliche Texte zu den jeweiligen Führungstheorien zu entwickeln und damit was „Festeres“ und „Ausführlicheres“ in der Hand zu haben. Das Schreiben des Lehrbuchs hatte für mich auch was Dissidentenhaftes, Subversives an sich, und das in zweifacher Hinsicht: Wann kann man schon populäre und aktuelle die Forschung dominierende Führungsansätze, wie z.B. „leader-member-exchange“ nach Herzenslust kritisieren, ohne eine Ablehnung deiner Einreichung zu befürchten? Außerdem sind die meisten Forscher heutzutage hinter den „Publications in Journals“ mit großem „Impact-Factor“ her, die Lehrbücher gehören zu den archaischen Genres ohne irgendeinen Stellenwert in den üblichen Leistungserfassungsschemen an den Universitäten. Gerade deswegen habe ich das Projekt für mich als eine ruhigere, kontemplativere Forschungsnische zurecht-„gesinnstiftet“.
Rainhart: Muss ich dem noch was hinzufügen? Eigentlich nicht. Höchstens mit Blick auf die individuelle Motivation, dass ich, trotz eines langjährigen Interesses am Thema Führung nach meiner Berufung in das „Ressort“ Organisation mit entsprechenden Publikationen im Gebiet der Organisation immer noch das Gefühl hatte, da fehlt noch was. Irgendwann wollte ich doch nochmal ein eigenes Führungsbuch schreiben, das die von mir als wichtig angesehen Themen aufnimmt, die Möglichkeit gibt, gerade diese etwas tiefer, nach „Herzenslust“, anzusehen, und, ja wenn nötig auch zu kritisieren, aber vor allem auch die oft fehlende Perspektivität von Theorien herauszustellen, die ja von ihrer Substanz her jeweils verschiedene Blickwinkel auf Führungsphänomene repräsentieren, und nicht absolute Wahrheiten. Und ich bin froh, da das allein kaum möglich gewesen wäre, dass ich mit Irma eine Gleich- oder zumindest Ähnlich-Gesinnte gefunden habe. Und da ist es nun, das Buch!
Ich: Wo setzt Ihr die Schwerpunkte bei der Betrachtung der Führung?
Rainhart: Siehe Inhaltsverzeichnis! Nein, im Ernst: Natürlich haben wir wie fast alle Schreiber von Textbüchern oder Lehrbüchern zu Führung unsere Autorenfreiheit ausgenutzt, um aus dem Kanon der aktuell verhandelten Theorien und Konzepte oder auch der Führungsphänomene bewusst solche auszuwählen, die wir für aktuell oder wichtig oder einfach interessant und für eine besseres Verständnis der Führungsphänomene insgesamt für hilfreich angesehen haben. Ebenfalls bewusst haben wir auf allzu modische Konzepte nur sehr selektiv berücksichtigt, auf andere, von ambidexterer Führung über salutogenetische Führung bis “Complexity leadership“, ganz verzichtet. Das ein oder andere kann bei „Bewährung“ sicher später einmal nähere Beachtung finden. Und zugleich tauchen beim relaxt-tieferen Eindringen in das Thema und beim Schreiben dann natürlich andere, unterschätzte Themen auf, über die man und frau auch noch gern geschrieben hätten. So scheint uns etwa der relationale Führungsansatz, oder der identitätsorientierte Führungsansatz wie auch eine kritische Führungsperspektive einer vertieften Beschäftigung wert, und auch zur partizipativen Führung gibt es bisher wenig Fundiertes. Wie Du siehst, Peter, ist es mit einer solchen „Schwerpunktliste“ nicht so einfach, wenn nicht nur das „Gesagte“ sondern auch das „Nichtgesagte“ wichtig ist.
Irma: Anstatt von „Schwer-Punkten“ würde ich eher von „Schlag-Lichtern“ sprechen: Worauf wir unseren Blick gerichtet haben und nicht, wo wir mit den „Schwerpunkten“ stehengeblieben sind. Ich würde sagen, dass uns Führung weniger als Praxis interessiert, sondern vielmehr als ein Phänomen, welches Forscher - radikal gesehen - selbst geschaffen haben und im Laufe der Zeit unterschiedlich zu deuten und zu erklären versuchten. Wie überzeugend diese - aktuellen - Erklärungen sind und an welchen Stellen ihre Überzeugungskraft bricht, war das Interesse, auf dem das Lehrbuch fußt. Für jede Theorie haben wir ihre eigene kurze Geschichte der Irrungen und Wirrungen entwickelt, dabei aber stets darauf geachtet, wie interessant oder wie plausibel diese Theorie die Praxis erklären könnte - dafür musste die Fallstudie „Mittermayer“ herhalten, die sich wie ein gleichbleibender Faden durch alle Führungstheorien unserer Lehrbuchs durchzieht. Welche Führungstheorien wir als „aktuell“ bezeichnet haben, war, wie Rainhart schon andeutete, teilweise ziemlich willkürlich oder unseren Sympathien oder Antipathien den Theorieansätzen gegenüber geschuldet. Die meisten Theorien, die wir behandeln, angefangen mit psychoanalytischer Führungssicht bis hin zur neo-charismatischen Führungstheorie, sind aktuell aber keinesfalls neu – ihre Anfänge reichen bis in die Anfänge der Sozialwissenschaften zurück. Andere Theorien, wie Führungsmythen oder Führungssubstitute waren weder neu noch aktuell –sie werden kaum in der gegenwärtigen Führungsforschung beachtet, obwohl von erheblichem Erkenntnisgewinn und kritischem Potenzial. Gerade deswegen wollten wir sie nicht außen vor lassen.
Ich: Warum macht es Sinn, sich im Studium intensiv mit dem Thema Führung zu beschäftigen? Kann man Führung lernen? Und: Lernt sich dies nicht besser in der Praxis?
Irma: Um es postmodern-hedonistisch zu antworten: Sinn macht es überhaupt nicht, höchstens kann es kleine Freude bereiten, zumindest für ein paar abgebrühte Forschungsfreaks. Ok, nun etwas ernsthafter und moderner: Die Fragestellung an sich verhieß nichts Gutes: sie suggeriert, dass Führung was Wichtiges wäre, Unverzichtbares. Das ist sie nicht. Könnte aber werden, v. a. wenn wir die ganzen heutigen gesellschaftlichen Probleme betrachten, angefangen vom Umgang mit den Flüchtlingen bis hin zu unterfinanzierten Städten, geschlossenen Schulen, Stadtbibliotheken oder überarbeiteten Ärzten, ausgebrannten Verwaltungsangestellten in den Gemeindeverwaltungen. Man muss sich fragen, wie Führung organisiert werden kann, zu welchem Zweck und wem wir unter Umständen die Entscheidungen für unser Leben überlassen. Die Vorstellung, dass Führung die Herrschaft einer Person über andere bedeutet, muss andere Vorstellungen der Führung nicht ausschließen: der Führung durch Kollektiv, partizipative Führung, Führung ohne nominierte Führungskraft. Und ob man das lernen kann! Und dafür müssen wir nicht „in die Praxis“ gehen, weil wir uns stets mitten „in der Praxis“ befinden: als Studenten, als Dozenten, als Leser oder Kritiker des Lehrbuchs oder dieses Blogs. Wie es kein anderes Leben gibt, so gibt es keine andere Praxis als die, die man JETZT, in diesem Augenblick vollbringt. Und das Lernen ist dabei - so sehe ich es - nicht ein Lernen, wie A oder B erledigt werden kann (z.B. „wie Mitarbeiter erfolgreich geführt werden können“), sondern vor allem ein Reflektieren-Lernen über die Selbstverständlichkeiten und über das WARUM: Warum müssen Mitarbeiter geführt werden? Warum erfolgreich? Vielleicht wäre eine gescheiterte Führung viel erfolgreicher? Und wer anhand welcher Kriterien bestimmt, was „Erfolg“ ist?
Rainhart: Um den Gedanken weiterzuspinnen: Von welcher Praxis reden wir? Eine der zentralen Probleme ist es ja gerade, dass Management- und Führungskonzepte, die gerade „in Mode“ sind, unreflektiert aus der Wirtschaft, und vor allem der Industrie auf Behörden, Krankenhäuser, Schulen und Universitäten oder Kultur- und Sozialeinrichtungen übertragen werden, unbeschadet der zum Teil ganz unterschiedlichen Praxiskontexte. Das kann ein Lernen sicher befördern, wenn der Transfer nicht dogmatisch und im Glauben an irgendeine überlegene „Best Practice“ scheinbar erfolgreicher Organisationen vorgenommen wird. Umgekehrt finden wir viele führungsähnliche Situationen in anderen Lebensbereichen, Familie, Schule, Freizeit, aus denen sich neue, interessante Anregungen zum Überdenken alltäglicher Führungssituationen ergeben können, für Studenten wie auch erfahrene Führungskräfte. In diesem Sinne haben wir im Buch ein Kapitel mit dem Titel „Intermezzo“ eingefügt, in dem wir einige Beispiele in dieser Richtung aufbereitet haben.
Ich: Im Bereich der Führung passiert im Moment eine Menge. Dabei verweise ich gern auf die Entwicklungen im Bereich IT (Stichwort „Agilität“). Welche Tendenzen sind hier aus Eurer Sicht besonders wichtig?
Irma: Häh? Eine agile IT? Ich kenne diese von Dir angedeuteten Entwicklungen nicht, Peter. Es scheint mir ein Ausdruck der alten Anthropomorphisierung der Technik zu sein: eine agile, lebendige, aktive Technik, die sofort viel menschlicher daherkommt als herkömmlicher Wust von Kabelnetzen und wildes Durcheinander von Hard- und Software. Sorry, ich könnte nur wild assoziieren, ohne Deine Frage zu beantworten.
Rainhart: Ok, Peter, damit Du noch eine ernste Antwort bekommst: Ich halte die Debatten über einen gravierenden Umbruch im Führungsgeschehen, so Führung 2.0, 3.0 usw. als Ergebnis der IKT-Trends für völlig überzogen und die entsprechenden Prognosen für wenig realistisch. Wie Du selbst aus Deiner Analyse von E-Leadership weißt, handelt es sich bei den beschriebenen Trends in der Regel um normative Aussagen von etwas Wünschenswerten, und die wenigen empirischen Befunde greifen letztlich doch wieder auf bekannte Führungsmodelle oder -konzepte wie die transformationale Führung zurück. Um nicht falsch verstanden zu werden: natürlich wirken sich Veränderungen in den organisationalen Rahmenbedingungen wie der Technologie oder Organisationsstruktur auch auf Führungsprozesse aus, und strukturieren den Rahmen und ggf. die Medien neu, in denen sich Führungsbeziehungen entwickeln. Aber das kann sehr gut mit vorhandenen Vorstellungen von Führungsprozessen beschrieben werden. Und inhaltlich bleibt abzuwarten, welche empirisch nachweisbaren Veränderungen im Führungsprozess sich tatsächlich bei weitergehender Nutzung solcher Technologie tatsächlich finden lassen. Auch IT-Firmen sind bisher eben auch nicht als Hort veränderter, zum Beispiel partizipativer oder geteilterer Führung beschrieben worden, wie eigentlich von verschiedenen Gurus der X.X-Technologien versprochen.
Ich: Im Moment beschäftige ich mich den Fragen einer zunehmenden Beteiligung der Mitarbeiter/innen bei der Führung. Welche Themen erhalten aus Eurer Sicht eine besondere Bedeutung? Welche Entwicklungen sind in den nächsten Jahren zu erwarten?
Irma: Beteiligung und Partizipation, verbunden mit den Demokratieidealen gewinnt nicht nur in den sächsischen Städten an Bedeutung - siehe alleine PEGIDA, LEGIDA und jeweils ihre Gegenbewegungen. Mitarbeiterbeteiligung bei der Führung - eine sehr wichtige Entwicklung, die wir in unserem Lehrbuch etwas vernachlässigt haben. Zwar gingen wir auf die geteilte und verteilte Führung ein, in der Zwischenzeit wird aber auf diesem Gebiet aber derart viel geforscht und publiziert, dass bei der neuen Auflage des Lehrbuchs dieses Kapitel als erstes überarbeitet werden müsste ☺ Im Übrigen handelt es sich dabei um eine durchaus alte Frage der Führungslehre: wie könnte Führung organisiert werden? Warum ist die Einzel-Führung ein bisher selten kritisiertes Modell? Dabei handelt es sich um ein Umdenken der Rolle der Geführten. Bereits Sigmund Freud hat auf die reziproke Abhängigkeit zwischen den Führenden und Geführten hingewiesen: Ohne die Geführten gäbe es keine Führer. Indes häufen sich Forschungsarbeiten, die die sogenannte geführtenorientierte Perspektive auf Führung vertreten: Nicht mehr die Führungskraft steht im Fokus, sondern die Geführten, und zwar nicht als passive Basis der Führung, sondern als diejenigen, die ihre eigene Führung herbei-führen und überhaupt ermöglichen. Die Themen der partizipativen Führung, Selbstführung gewinnen weiter an Popularität – sowohl in der Forschung als auch in der sogenannten „Praxis“. Die daraus resultierenden Fragen der Verantwortung(steilung) oder der Gerechtigkeit von Lohnunterschieden zwischen Führungskräften und Mitarbeiter werden uns – hoffentlich - noch beschäftigen.
Rainhart: Gerade das von mir eingangs erwähnte Konzept der relationalen Führung spielt hier eine wichtige Rolle, weil es die wechselseitige soziale Konstruktion der Führung, der Führungsbeziehung und der Führungsprozesse durch die beteiligten Akteure in den Blick nimmt, und die Interaktion zwischen Führern und Geführten betont anstatt einer ausschließlichen Führerperspektive oder einer ausschließlichen Geführtenperspektive. Fast alle aktuellen Konzepte einer kollektiven, verteilten oder geteilten Führung beziehen sich explizit oder implizit auf dieses Basiskonzept. Sowohl als theoretische Konzepte der Sicht auf Führungsprozesse wie auch hinsichtlich ihrer praktischen Relevanz sehe ich ebenfalls dort ein großes Feld für künftige Forschungs- und Managementbemühungen.
Ich: Werden diese Aspekte bei einer Überarbeitung des Lehrbuchs berücksichtigt? Welche neuen Schwerpunkte können die Leser/innen bei einer Neuauflage des Lehrbuchs erwarten?
Irma: Neben der bereits erwähnten partizipativen Führung müssten wir uns, wie oben erwähnt, noch eingehender mit kritischen Führungsansätzen befassen oder mit Führung und Diskursen. Mit Sicherheit wird zum Zeitpunkt der Überarbeitung des Lehrbuchs auch das Thema Führung und Frauen mit neuen Erkenntnissen aufwarten.
Rainhart: Ja, gerade der Einfluss der Mediendiskurse auf die Herausbildung von impliziten Führungstheorien, also der gesellschaftlichen Vorstellungen von guten und schlechten Führern und Geführten dürfte hier sehr interessant sein, zumal damit auch inner-organisationale Diskurse und Vorstellungen über Führung verknüpft sind und vorhandene Stereotype stabilisieren, aber auch infrage stellen können. Daneben würde ich auch noch auf das kaum ausgeschöpfte Potential alternativer theoretischer Konzepte wie der verteilten Führung verweisen. Und schließlich entwickelt sich auch das Feld der ethischen Führung weiter.
Ich: Herzlichen Dank für das Gespräch. Ich freue mich darauf, dass Ihr vielleicht zum diesjährigen HR Innovation Day 2015 (30. Mai 2015 - HTWK Leipzig) einen Workshop zum Thema „Führung“ gestaltet. Vielleicht kommt es dabei zu interessanten Begegnungen: Denn einige Eurer Aussagen werden dabei bestimmt nicht ohne Kommentare oder sogar Widerspruch bleiben.
Zu meinen Gesprächspartnern:
Irma Rybnikova |
Rainhart Lang |
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