Donnerstag, 20. November 2025

Wir sollten uns nichts vormachen: KI ist ein Multiplikator - kein Qualitätsgarant - Gespräch mit Jörg Klukas

Die Weihnachtsausgabe unseres HR Innovation Days 2025 rückt näher. Traditionell führe ich Interviews mit den Keynote-Speakern, um bereits im Vorfeld des Events Einblicke in Themen und Meinungen zu gewähren. Heute steht mir mein Professorenkollege Jörg Klukas für ein Gespräch zur Verfügung. Er ist Professor für Human Resources Management an der FOM und Geschäftsführer von Deutschlands größtem Empfehlungsnetzwerk für Fachkräfte: Dem Empfehlungsbund. Jörg Klukas kenne ich seit Jahren und wir begegnen uns oft auf verschiedenen HR-Events. Ich freue mich außerordentlich, dass ich ihn in diesem Jahr für eine Keynote mit dem Titel „Die große Täuschung: Warum Personalauswahl so oft falsch liegt“ gewinnen konnte. Bereits an dieser Stelle herzlichen Dank dafür, dass er das Event mit einer Keynote unterstützt.

Peter: Lieber Jörg, könntest Du Dich kurz vorstellen?
Jörg: Gern. Ich bin Professor für Human Resources Management an der FOM Hochschule Leipzig und Geschäftsführer der pludoni GmbH. Mit dem Empfehlungsbund betreiben wir seit über 15 Jahren ein Netzwerk von Arbeitgebern, die sich gegenseitig qualifizierte Fachkräfte empfehlen. Davor habe ich viele Jahre in der Wirtschaft gearbeitet – zuletzt als Leiter HR und Business Excellence bei Telekom MMS. Meine Arbeit dreht sich seit langem um die Frage, wie Organisationen Menschen besser verstehen und Entscheidungen treffen können, die sowohl fair als auch wirksam sind.

Peter: Was ist der Empfehlungsbund?
Jörg: Der Empfehlungsbund ist ein Arbeitgeberverbund, der Absagen nicht als Endpunkt betrachtet, sondern als Chance. Wenn ein Unternehmen eine Person nicht einstellen kann, obwohl sie geeignet wäre, erhält diese einen Empfehlungscode. Mit diesem Code kann sie sich bei einem anderen Mitglied bewerben und signalisiert: „Ich wurde bereits als passend eingeschätzt.“ Damit entsteht ein System der gegenseitigen Validierung – AGG- und DSGVO-konform. Arbeitgeber teilen nicht personenbezogene Daten, sondern nur ihre Einschätzung der Eignung über einen Code, den die Bewerbenden selbst weitergeben. Es ist ein sehr praktisches, sehr menschliches und gleichzeitig sehr effizientes System.

Peter: Was haben Unternehmen von einer aktiven Mitwirkung in diesem Netzwerk?
Jörg: Gerade jetzt, wo wir wieder deutlich mehr Bewerbungen pro Stelle sehen, ist das Empfehlungsprinzip ein Vorteil. Unternehmen müssen aktuell viele Bewerbende ablehnen – und darunter sind auch sehr gute, die schlicht knapp „vorbeirutschen“. Für Unternehmen entstehen daraus zwei Risiken: Falsch-Negative – man übersieht Talente. Zeitverluste – man prüft zu viele Kandidaten, die nicht passen. Der Empfehlungsbund wirkt hier wie ein Korrekturmechanismus: Über Empfehlungen landen geeignete Talente, die anderswo nicht eingestellt werden konnten, schneller wieder im Prozess. Die erhaltenen Bewerbungen sind oft hochwertiger, weil z.B. zwei Unternehmen dieselbe Person bereits als passend wahrgenommen haben. Gleichzeitig zeigen Unternehmen Verantwortung, indem sie Menschen, die sie selbst nicht einstellen können, nicht „fallen lassen“. Und: Mitmachen ist kostenfrei. Reziprozität entsteht, weil jedes Unternehmen sowohl gibt als auch bekommt.

Peter: Mit dem Thema Deiner Keynote steigst Du offensiv in eine derzeit heftig diskutierte Fragestellung ein. Es geht mMn dabei vor allem darum endlich den „heiligen Gral“ einer fehlerfreien und stets wissenschaftlich fundierten Personalauswahl zu entdecken und diesen entsprechend anzuwenden.
Jörg: Ja, und genau hier liegt die große Illusion. Viele diagnostische Verfahren versprechen Objektivität – ihre reale Wirkung ist jedoch begrenzt. Die Forschung der letzten Jahre zeigt, dass Validitäten deutlich geringer sind als lange angenommen. Unternehmen überschätzen oft die Präzision ihrer Auswahlverfahren und unterschätzen gleichzeitig, wie schnell gute Menschen fälschlicherweise abgelehnt werden. Wir fokussieren uns zu oft auf „Messbarkeit“, aber zu wenig auf Verstehen. Meine Keynote soll aufzeigen, warum uns diese Fokussierung in eine Sackgasse führt – und wie wir wieder zu realistischeren, menschlicheren Entscheidungen zurückkehren können.

Peter: Kurz gefragt, was kann eine gute Personalauswahl leisten und was nicht?
Jörg: Gute Personalauswahl kann Wahrscheinlichkeiten verbessern, aber sie kann keinen sicheren Blick in die Zukunft geben. Sie kann helfen, Passung plausibel zu machen, aber sie kann keine Garantie dafür liefern, wie sich Menschen in komplexen Systemen entwickeln. Entscheidend ist: Auswahl ist immer interpretativ. Sie ist nie rein objektiv – und das ist in Ordnung, wenn wir uns dessen bewusst sind. Gute Auswahl schafft Transparenz über Unsicherheiten und geht reflektiert damit um.

Peter: Braucht gute Personalauswahl den Einsatz von KI-Lösungen?
Jörg: KI kann vieles – aber eines kann sie nicht: sie kann nicht die fehlende Varianz zum späteren Berufserfolg erzeugen. Wenn unsere Verfahren inhaltlich schwach sind, macht KI sie nur schneller, nicht besser. Im Kern automatisiert KI die bestehende Eignungsdiagnostik – inklusive ihrer Denkfehler, Verkürzungen und überzogenen Objektivitätsversprechen. Sie bringt nichts grundlegend Neues, wenn die zugrunde liegenden Annahmen falsch oder unvollständig sind.
Wir sollten uns nichts vormachen: KI ist ein Multiplikator – kein Qualitätsgarant. Sie multipliziert Muster, die wir ihr geben. Wenn diese Muster stumpf, unvollständig oder verzerrt sind, dann skaliert KI genau diese Verzerrungen. Daher sehe ich KI eher als Assistenzsystem: Sie kann entlasten, strukturieren, vergleichen, dokumentieren. Aber sie kann nicht die menschliche Urteilsfähigkeit ersetzen, die es braucht, um Kontext, Ambivalenz und Potenzial zu verstehen. Gute Personalauswahl entsteht also nicht durch KI statt Mensch – sondern durch KI mit reflektierten Menschen.

Peter: Mit den Ergebnissen der Personalauswahl wird aus meiner Sicht auch über den künftigen Unternehmenserfolg entschieden? Wie sollte diese Erkenntnis bei der Gestaltung der Personalwahl berücksichtigt werden?
Jörg: Ich glaube, wir überbetonen seit Jahren den Begriff „Passung“. Er stammt aus einer Zeit, in der Arbeitsplätze als relativ starr galten: Aufgaben, Bedingungen, Abläufe – alles war fest definiert, und Menschen mussten „passen“. Heute ist das anders. Viele Aufgaben sind aushandelbar: Arbeitsmittel, Prozesse, Prioritäten, Lernwege, Verantwortlichkeiten. Unternehmen und Mitarbeitende gestalten diese Faktoren zunehmend gemeinsam. Das reduziert die Bedeutung der klassischen Passungslogik und erhöht die Bedeutung von Gestaltungsfähigkeit – auf beiden Seiten. Die vielen neuen Labels der letzten Jahre – skill-based hiring, value-based hiring, culture-based hiring – versuchen genau diese Flexibilisierung zu adressieren. Sie zeigen, dass Organisationen gemerkt haben: Nicht der „perfect fit“ entscheidet über Erfolg, sondern die Fähigkeit, Aufgaben und Erwartungen gemeinsam zu entwickeln. Entsprechend sollte Personalauswahl weniger versuchen, statische Merkmale zu messen, sondern eher klären: Wie gut können wir miteinander Aufgaben aushandeln? Wie flexibel sind beide Seiten in der Gestaltung des Arbeitsalltags? Welche Ziele sind nicht verhandelbar – und wie kommen wir gemeinsam dorthin? Kurz gesagt: Unternehmenserfolg entsteht heute weniger aus Passung, sondern aus Ko-Kreation zwischen Organisation und Mitarbeitenden.

Peter: Ohne zu viel zu verraten, was können die Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Deiner Keynote erwarten?
Jörg: Eine kritische Bestandsaufnahme – und eine konstruktive Perspektive. Ich werde zeigen, warum Personalauswahl häufig falsch liegt, welche Denkfehler wir pflegen und warum wir uns oft zu sehr auf diagnostische Tools verlassen. Gleichzeitig geht es um Lösungen: Was können wir besser machen, ohne in mehr Bürokratie oder mehr Testungen abzurutschen? Die gute Nachricht: Wir können viel verbessern, indem wir Wahrnehmung, Dialog und kollektive Intelligenz stärken. Nicht alles muss automatisiert oder standardisiert werden.

Peter: Meine Standardfrage zum Schluss. Warum kommst Du zu unserem Event?
Jörg: Weil der HR Innovation Day ein Ort ist, an dem HR ehrlich über sich selbst reflektieren kann – ohne Show, ohne Oberflächenoptimierung. Es ist ein Raum für echte Diskussionen zwischen Studierenden, Praktikern und Forschenden. Und gerade jetzt, wo sich der Arbeitsmarkt so stark verändert, brauchen wir solche Orte. Ich freue mich darauf, Perspektiven auszutauschen und gemeinsam neue Fragen zu stellen.

Mein Interviewpartner Professor Jörg Klukas hat an der Universität TU-Dresden und College des Ingenieures Paris studiert und verfügt über eine lange Berufserfahrung im Personalumfeld - davon ca. 8 Jahre als Leiter Human Resources und Business Excellence bei der Telekom MMS, jetzt ca. 16 Jahre als Geschäftsführer der pludoni GmbH mit www.Empfehlungsbund.de zur qualifizierten Fachkräfteempfehlung und seit etwa 10 Jahren hauptberuflicher Professor der Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Personalgewinnung und -bindung an der FOM Leipzig.

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