Dr. Sven Sebastian |
Sebastian: Die spannenden Forschungsergebnisse der Neurowissenschaften liefern aus meiner Sicht nicht nur Personalverantwortlichen wichtige Antworten für den Alltag: Wie funktioniert das menschliche Gehirn und was beeinflusst dessen Arbeitsweise? Was sind die besonderen Fähigkeiten, Fertigkeiten, Merkmale, Ängste, Befürchtungen, Wünsche und Bedürfnisse eines Menschen und wie können wir diese Potenziale erkennen, entwickeln und nutzen? Die demografische Entwicklung der Gesellschaft, aber auch die höheren Lebenserwartungen sowie die dynamische Entwicklung der kognitiven und vegetativ-hormonellen Möglichkeiten des Einzelnen erfordern von jeden von uns eine lebenslange Employability und intrinsische Motivation sowohl im Bereich der Führungs- als auch Mitarbeiterebene. Wenn wir zum Beispiel über Resilienz, Hardiness, Selbstregulation und Selbstwirksamkeit sprechen, dann haben wir neurobiologisch betrachtet sofort Fragen an die Funktionalitäten der Schaltzentrale unseres Denkens, Empfindens, Bewertens und Handelns, an das menschliche Gehirn und dessen Wechselwirkung mit dem Körper und der Umwelt. Sehen Sie, eine eintrainierte Yoga-Stellung wird nur in seltenen Fällen zu einer wirklichen Konfliktlösung während eines Budget-Meetings führen. Da braucht es schon ein gutes Wissen darüber wie wir unter alltäglichen Situationen wahrnehmen, denken und empfinden. Die Neurowissenschaften, allen voran die Neurobiologie, liefern dazu exzellente Erkenntnisse sowie praxisrelevante Methoden und Techniken zur nachhaltigen Veränderung und Steuerung innerer Haltungen und Motivationen. Mit anderen Worten: Die Ergebnisse der Neurowissenschaften spielen immer dann eine wichtige Rolle wenn es um die Interaktion und Führung von Menschen geht. Wer ein Team für eine Vision oder für das Erreichen von Zielen verführen, eine kollektive Begeisterung für Veränderungen und Regeln erreichen will, der muss zunächst sich selbst mental erkennen und verstehen, wie ein menschliches Gehirn allein und in der Gruppe tickt, organisiert und strukturiert ist. Erst dann können Personalentwicklungsmaßnahmen wie Employee Branding, Talent Management, Employee Engagement, Employee Replacing im beruflichen Alltag strategisch wirksam zünden.
Wald: Wie begegnen Sie Argumenten, dass die Übernahme von Erkenntnissen der Hirnforschung nur eine vorläufige Mode darstellt?
Sebastian: Na, grundsätzlich können wir Ihnen Recht geben. Es entspricht auch unseren Erfahrungen. Das Schlagwort „Hirnforschung“ ist aktuell sehr populär und wird in vielen Zusammenhängen rauf und runter zitiert. Mein Frisör erzählte mir vor kurzem ernsthaft, dass er eigentlich schon seit Jahren Gehirnforschung betreibt, und das glaube ich ihm sogar! Der Schnitt des Haupthaares kann durchaus ein Ausdruck von innerer Haltung und Denkweise sein. Nur wie kommen wir an diese heran, ohne äußere Interpretation und Vorwegnahmen? Kann ein Personalleiter anhand der Frisur eines Mitarbeiters erkennen, ob dieser intrinsisch motiviert ist und den anstehenden Veränderungen verständnisvoll und loyal gegenübersteht? Helfen uns Persönlichkeitstests wie DISC usw. um zu erkennen, was ein Mitarbeiter in entscheidenden Situationen wirklich empfindet, welche wahren Bedürfnisse und Annahmen im Moment der Auseinandersetzung neuronal aktiviert sind? Sind wir wirklich in der Lage, die über 40 Muskelgruppen in unserem Gesicht so willentlich zu steuern beziehungsweise in einem anderem detailliert zu lesen, so dass wir das Gespräch ganz nach unseren Vorstellungen führen können? Was ist wenn die Stirn- und Augenpartie des Gegenübers im Vorfeld kosmetisch gut behandelt wurde? Das Wissen um die neuronalen Prozesse des menschlichen Gehirns und dessen multizentrischen Arbeitsweise werden im Alltag oftmals nicht ausreichend verstanden. Es reicht eben nicht aus festzustellen, dass es ein Motivations- und Lustzentrum sowie ein Zentrum für Logik und Denken gibt. Diese Vorstellungswelt aus dem letzten Jahrhundert greift deutlich zu kurz, ist falsch und führt zum Scheitern vieler Methoden im Bereich der Mitarbeitermotivation und Teamführung. Nehmen wir das Beispiel Empathie. Lassen sich die dafür zuständigen „Spiegelneurone“ wirklich einfach so trainieren? Aus unserer Sicht kommt es vielmehr darauf an zu verstehen, wie diese neuronalen „Wunderwerke“ des „Mitgefühls und Mitdenkens“ wirklich arbeiten und mit den Regelkreisen des gesamten menschlichen Organismus interagieren. Ganz zu schweigen von den Kenntnissen über den Einfluss von Genetik, Erfahrungswelten und Umweltfaktoren wie Medien, Kultur und Soziales auf unsere Fähigkeit Situationen und Ereignisse mit zu empfinden und daraus Vorannahmen für das eigene Handeln zu erzeugen. Die moderne Hirnforschung hat sich in den letzten 20 Jahren explosionsartig entwickelt. Neue Erkenntnisse haben die Neurobiologie in vielen Bereichen in völlig neuem Licht erscheinen lassen. Zentrale Dogmen wurden aufgehoben und neu entwickelt. Es gibt keine andere Naturwissenschaft, die sich so rasant entwickelt hat und in den kommenden Jahren noch entwickeln wird. Von dem, was die Neurobiologie inhaltlich ausmacht, sind bisher nur Bruchteile praxisrelevant aufgearbeitet und verstanden worden. Ich kann nur jeden im eigenen Interesse seines Wohlbefindens dazu einladen sich mit seinem Gehirn zu beschäftigen. Wann haben Sie zum Beispiel das letzte Mal über Ihre Art des Denkens nachgedacht? Menschen besitzen von Grund auf das Interesse zu erfahren wie sie ticken und was die Ursachen für dieses und jenes Verhalten ist. Es ist nichts befreiender als sich selbst gut annehmen und verstehen zu können, vor allem in den Bereichen der eigenen Empfindung und Wahrnehmung. Am Proventika - Institut für angewandte Hirnforschung und Neurowissenschaften IAH sind wir nahezu davon besessen, das Wissen um die Funktionalität des menschlichen Gehirns und dessen Auswirkung auf unseren Organismus, auf unsere Persönlichkeit und Erfahrungs- und Bedürfniswelt auf Praxisrelevanz und Alltagstauglichkeit zu prüfen und auf Basis von leicht zu erlernenden Methoden und Techniken interessierten Menschen zur Verfügung zu stellen. Auch Personalverantwortlichen und Führungskräften.
Wald: In Ihrem Vortrag geht es um Verbindungen zwischen der Mitarbeiterbindung und der Hirnforschung. Können Sie meinen Lesern schlagwortartig diese Verbindung erläutern?
Sebastian: Die erste Frage, die sich mir da stellt, ist folgende: Warum binden sich Menschen an Unternehmen, an Vereine und Gruppierungen, an Teams oder einzelne Personen? Der Grund dafür liegt in der Biologie des Menschen verankert. Wir sind, naturwissenschaftlich betrachtet, eine erstaunlich funktionierende Ansammlung von Zellen. Jede dieser Biokraftwerke trägt Erbgut, also einen Bauplan zur Reproduktion in sich sowie eine Anleitung wie diese Reproduktion erfolgen soll. Über ausgeklügelte Mechanismen sind zum Beispiel die menschlichen Nervenzellen in unserem Gehirn in der Lage zu wachsen, sich miteinander zu verknüpfen, diese Verbindungen zu stärken oder auch zu lösen, Bahnungen über weite Strecken hinweg auszubilden und über Botenstoffe miteinander permanent zu kommunizieren. Das ist vergleichbar mit einem Orchester, das je nach Dirigat Moll oder Dur, Bruckner oder Mozart spielt. Aus dem gemeinsamen Musizieren entsteht ein Wohlbefinden in unserem Kopf, was sich mittels Nerven- und Blutbahnen über den ganzen Organismus ausbreitet. Sind wir dann noch in der Lage, auf Anforderungen der Umgebung unter Nutzung unserer körperlichen, geistigen und seelischen Ressourcen adäquat und im Interesse unserer eigenen Ziele und Bedürfnisse reagieren zu können, sind wir gesund und entwickeln uns prächtig. Um dieses „Aufblühen“ absichern und selbst kontrollieren zu können gehen wir als soziale Wesen Bindungen (Kontakte) zu anderen Menschen oder zu Unternehmen ein. Nur durch den gemeinsamen Austausch von Wissen, Erfahrungen, Empfindungen, Gedanken, Berührungen usw. erlangen wir eine positive Selbstwirksamkeitserwartung, können wir unsere Potentiale ausschöpfen und zielorientiert einsetzen. Je wertschätzender, achtsamer, toleranter, klarer, verständlicher und vertrauensvoller sich Menschen binden, umso stärker ist das menschliche Gehirn von den anstehenden Aufgaben begeistert, sprüht vor Kreativität, Motivation und Freude, ist leistungsfähig und konzentriert. Und hier setzt die Hirnforschung ein: Welche Umgangsformen, sprachlichen Regelungen, Incentiveprogramme, Stimuli und Reize von außen erregen optimal die Nervenstrukturen im Gehirn eines Mitarbeiters, die mit wertschöpfender Bindung, Loyalität, Motivation und Willenskraft verbunden sind?
Wald: Wie sieht es aktuell mit der Mitarbeiterbindung in deutschen Firmen aus?
Sebastian: Nicht besonders gut. Ich würde sogar sagen: Der Patient atmet noch, kann sich aber nicht mehr bewegen. Sehen wir uns in diesem Fall die aktuelle Gallup-Studie an. Sie beschäftigt sich seit 2001 in jährlichen Erhebungen mit der Frage, wie es mit der emotionalen Bindung von Mitarbeitern in Deutschland aussieht. Das Ergebnis für 2013 ist fatal. Über 80% der Mitarbeiter haben eine geringe emotionale Bindung zu ihrem Unternehmen. Nur zirka 16% haben eine gute emotionale Bindung. Alleine hier wird schon klar, dass noch einiges zu tun ist auf dem Weg in eine wertschöpfende und gesunde Mitarbeiterbindung. Denn dieser Faktor ist für ein Unternehmen sehr wichtig. Nur emotional gebundene Mitarbeiter entwickeln eine gute Performance. Alle anderen sind schon im Zustand der inneren Kündigung oder auf dem Weg dorthin. Sie arbeiten dann streng nach Vorschrift, betreiben in ihrer ablehnenden Haltung Sabotage. Neurobiologisch betrachtet ist bei diesen Menschen ein Schalter umgelegt und ein kognitives Erregungsmuster aktiviert, dass zu einer geringen Motivation, Eigeninitiative, Verantwortlichkeit, Begeisterung führt. Uns interessiert letztendlich, was ist neurokognitiv geschehen und wie kann man diesen Zustand schnell und effizient so verbessern, dass er von Mitarbeitern selbst aktiv beibehalten wird. Denn im Grunde fragt sich ein Mensch (Gehirn) immer: Was habe ich davon? Sind meine Grundbedürfnisse und Ziele erfüllt? Wie sieht es aus mit meiner emotionalen Bindung zum Unternehmen (Partner)? Und dieser Punkt ist mit anstand der allerwichtigste. Hinter emotionaler Bindung stehen Einzelkomponenten wie: Fühle ich mich aufgehoben? Wertgeschätzt? Als Mensch? Werde ich gefragt? Fair behandelt? Was bietet mir das Unternehmen wirklich und hält es das was es mir verspricht?
Morgen folgt der zweite Teil des Gespräches mit Dr. Sven Sebastian.
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