Montag, 6. Juni 2022

In meinen Augen braucht es eine beherzte Holokratie - Gespräch mit Stephanie Nowicki

Der HR Innovation Day 2022 steht in den Startlöchern. Heute gibt es wieder ein Vorab-Interview mit einer Keynote-Speakerin. Dafür darf ich Stephanie Nowicki begrüßen. Sie wird zum diesjährigen HR Innovation Day eine Keynote zum Thema „Holokratie - ein Muss für die Organization der Zukunft?“ anbieten. Ich freue mich sehr, mit Stephanie Nowicki eine Keynote-Speakerin gewonnen zu haben, die den Teilnehmern anhand eigenen Erlebens, Gestaltens und Mitwirkens zeigen kann, was Holokratie als neues Organisationskonzept bedeutet. Ganz herzlichen Dank bereits an dieser Stelle an Stephanie Nowicki für ihren Input zum HR Innovation Day 2022.

Wald: Vornweg herzlichen Dank, dass Sie unser Event mit einer Keynote zu einem so aktuellen Thema unterstützen.
Nowicki: Mein Dank gilt Ihnen. Es freut mich, dass Sie diesem Thema Raum geben möchten, und zwar aus der Innen-Perspektive einer größeren Organisation, die sich seit mehreren Jahren in der holakratischen Praxis übt. Aus dieser Perspektive sind Vorteile, Herausforderungen und offene Fragen – speziell auch bezüglich der Rolle des HR-Bereichs – noch einmal anders zu betrachten als es einem externen Berater möglich wäre, der Unternehmen nur vorübergehend begleitet.

Wald: Könnten Sie sich kurz vorstellen? Wie sind Sie zum Thema Holokratie gekommen?
Nowicki: Tatsächlich war ich mehr als 17 Jahre lang als selbstständige Organisationsberaterin, - entwicklerin, Trainerin und Coach tätig, bevor ich zu Hypoport und in ein Anstellungsverhältnis wechselte. Und genau die oben genannte, mir immer fehlende Perspektive war für mich der entscheidende Grund dafür: Ich wollte den Transfomationsschmerz, den die Implementierung von Holakratie verursacht, als Teil einer Organisation fühlen und beantworten lernen. Als ich 2009 das erste Mal mit Holakratie in Berührung kam, war mir sehr schnell klar, dass in dieser Art der Unternehmensführung eine große Chance liegen würde. Gleichzeitig – und dies verstärkte sich während meiner Ausbildung bei Brian Robertson seit 2010 – sah ich Lücken. Aus meiner Perspektive als Pädagogin im Erstberuf fehlte es vor allem an einer methodisch-didaktischen Grundlegung für die Implementierung von Holakratie. Dies beinhaltete auch die Betrachtung, unter welchen Voraussetzungen dieses Betriebssystem (bzw. diese soziale Technologie) für Unternehmen überhaupt als geeignet gelten konnte und welche Voraussetzungen eher eine Kontraindikation darstellten. Sehr schnell tauchte bei mir die Sorge auf, dass Unternehmen etwas begründet als Chance verkauft werden konnte, ohne dass die Entscheider selbst auch nur antizipieren konnten, was es in der Praxis bedeuten könnte und welche Konsequenzen dies nach sich ziehen würde.
Wie ich diese Sorge in meiner Beratungstätigkeit wenig später als Realität erleben konnte, werde ich gern in meinen Vortrag erzählen. Heute arbeite ich unter anderem in der Rolle Lead Link Organization & Learning in der Hypoport hub SE, einer Ausgründung der Hypoport SE, in der die Corporate Functions für das gesamte Hypoport-Netzwerk abgebildet sind. Von hier aus tragen wir mit Beratungs-, Trainings- und anderen Lernformaten das Thema „Bewusste Führung“ in die Hypoport-Unternehmen. Wir unterstützen Unternehmer:innen im Rahmen der „Führung am System“ eine bewusste Entscheidung für das „Betriebssystem“ ihres Unternehmens zu treffen, ohne dass es sich dabei um Holakratie handeln müsste. Genauso stehen wir für differenzierende Dialoge über Führung sowie die Begleitung von Unternehmer:innen, Führungskräften und Mitarbeitenden hinsichtlich der Führung ihrer Rollen, ihrer Mitarbeitenden und ihrer selbst zur Verfügung. Auch dies tun wir unabhängig davon, ob wir mit Kolleg:innen aus holakratischen Organisationen oder nicht-holakratischen Organisationen arbeiten. Gleichzeitig spielen bestimmte Konzepte aus der Holakratie auch in unseren Angeboten für nicht-holakratische Organisationen eine große Rolle.

Wald: Ich habe bislang viel über Holokratie gelesen auch über die oft zitierten Bespiele wie Zappos. Warum denken Unternehmen über die Einführung von Holokratie nach? Gibt es hier einen Veränderungsdruck in Richtung Holokratie?
Nowicki: Der Veränderungsdruck weist meines Erachtens nicht in Richtung Holakratie, sondern vor allem in Richtung höherer Grade an Selbstorganisation in Organisationen. Die sich schnell wandelnde Umwelt erfordert von Unternehmen flexibles, zügiges Antworten und Entscheiden. Durch die entstandene und sich ausweitende Komplexität, sollte dies deshalb nach Möglichkeit dort vollzogen werden, wo auch gehandelt wird. Wird jede Entscheidung an der Unternehmensspitze getroffen, bekommen wir einen Entscheidungsstau, wir werden langsam und nutzen nicht das beste Potenzial, das wir haben – die kollektive Intelligenz. Entscheidend ist also die Frage, wie wir die Kompetenz zu mehr individueller und kollektiver Selbstorganisation, die auch eine Haltungsänderung bedeutet, aufbauen können. Leider habe ich häufig erlebt, dass sich Unternehmer:innen vorstellen, mit Holakratie den magischen Schlüssel zu bekommen. Manchmal reicht dabei schon der Hinweis, dass Mitarbeitende zukünftig eigenverantwortlich handeln und Meetings effizienter ablaufen. Auch die Hoffnung, das unerklärliche „Phänomen Mensch“ durch die holakratische Praxis strukturierter handhaben zu können, ist für den einen oder anderen verführerisch. Ein ganzheitlicher Blick inklusive aller Vorteile und Herausforderungen wird in meiner Wahrnehmung noch zu selten eingenommen. Dies wäre aber notwendig, damit Holakratie mit ihrem sehr hohen Anspruch an Selbstorganisationskompetenz als Antwort auf den Veränderungsdruck nur dort eingesetzt wird, wo die Voraussetzungen wirklich erfolgsversprechend sind. Es sei denn, wir betrachten die mit Verfassung 5 zum ersten Mal hoffähige, modulare Implementierung, die nicht zwingend die Implementierung der gesamten Verfassung umfassen muss.

Wald: Kann Holokratie überhaupt in alte Organisationen „gebracht“ werden? Oder muss dies aus der Organisation heraus wachsen?
Nowicki: Das kommt darauf an, was Sie unter „alten“ Organisationen verstehen. Wenn Sie damit Unternehmen meinen, deren Inhaber:innen oder Geschäftsführer:innen Angst und Vorbehalte haben,
  • Führung neu, das heißt vor allem differenzierter zu denken,
  • die eigenen Kontrollwünsche teilweise abzulegen
  • sich selbst zu Lernenden zu machen und auch Fehler zuzugeben,
  • sich und ihr Handeln auch mit Humor zu betrachten,
dann ist von einer Entscheidung für Holakratie dringend abzuraten. Selbst wenn innerhalb einer Organisation einige Personen oder ganze Teams höhere Grade selbstorganisierten Handelns zeigen oder zeigen könnten: Ein Unternehmen kann nur dann vollends von Holakratie profitieren, wenn die Geschäftsleitung ernsthaft selbst an einer guten holakratischen Praxis interessiert ist und sich selbst dazu verpflichtet – mit allen Kosten, die eine Implementierung bedeutet.

Wald: Der Prozess der Implementierung von Holokratie bei der Hypoport SE wurde durch die Ausgründung der Corporate Functions als Hypoport hub SE erschwert. Der neue (größtenteils holokratisch arbeitende) Hub sollte einen Produktkatalog als Leistungsrahmen zwischen den Hypoport-Unternehmen und dem hub etablieren. Wie konnten holakratische Praxis und der notwendige Transformationsprozess zusammengebracht werden?
Nowicki: Eine umfassende Antwort würde den Rahmen dieses Interviews definitiv sprengen. Vielleicht genügt hier zumindest folgende kurze Antwort: Das holakratische Regelwerk wird von vielen Mitarbeitenden als starr, sehr umfangreich und komplex erlebt. Schnell kam an vielen Stellen die Befürchtung auf, etwas nicht richtig zu machen. Das zeitgleiche Erlernen und Praktizieren von Holakratie neben der Mitarbeit im neu aufgesetzten Prozess zur Erstellung des genannten Produktkatalogs, wurde zu einer Last, die womöglich auch den einen oder andern an seine persönliche Grenze brachte.
Die Hauptbemühung in dieser Phase der Holakratie-Implementierung bestand in zwei Interventionen: 
(1) Wir versuchten mehr psychologische Sicherheit aufzubauen und ermutigten unsere Kolleg:innen dazu, den Umgang mit Holakratie spielerischer zu betrachten. Wir nahmen ihre Bedenken ernst und eröffneten noch expliziter Räume für den Diskurs über Holakratie und diesbezügliches Probehandeln. Außerdem erzählten auch wir als Berater:innen von unseren ersten Gehversuchen mit Holakratie, von Zweifeln und vom Scheitern. 
(2) Gleichzeitig nahmen wir Anfragen zu konkreten Problemen im Alltag sehr ernst und unterstützten Kolleg:innen dabei, einen differenzierteren Blick zu entwickeln. Viele Herausforderungen hatten ihren Ursprung nämlich tatsächlich nicht in der Holakratie, sondern wurden durch sie nur viel schneller sichtbar. Dies half, das Wirken von Holakratie besser zu verstehbar zu machen und sie nicht für Schwierigkeiten verantwortlich zu machen, die ohne sie ebenso exisitiert hätten. Im Gegenteil, die schnell entstehende, hohe Transparenz in diesem Betriebssystem ermöglicht in der Folge zügigeres, hilfreiches Handeln.

Wald: Interessant fand ich auch die folgende These: Nur wenn die Beziehung zwischen dem Ich und der Holakratie gelingt, wird Holakratie akzeptiert und nachhaltig praktiziert.
Nowicki: Brian Robertson hat immer darauf hingewiesen, dass er zwischen dem Kontext der Organisation und dem Kontext der Person unterscheidet. Der Kontext der Person hat bei der Entwicklung von Holakratie keine Rolle gespielt. Die Frage nach Team-Events, Team-Entwicklung, Entwicklung von Menschen als Aufgabe oder kulturelle Aspekte wurden ganz einfach ausgeklammert. Der Diskurs über oder Maßnahmen zur Rücksichtnahme auf den Menschen, seine Motivation sich für Holakratie zu interessieren sowie seine (Selbst-)Lernkompetenzen wurden im ursächlichen Implementierungsprozess nicht „mitgeliefert“. Vielen erschien dieses Vorgehen sehr mechanistisch. Für die Bearbeitung entstehender Zweifel und Widerstände gab es keine Räume. Weil für mich persönlich die Beziehung der Menschen zu sich selbst, zu anderen und zu ihrer aus Natur, Organisationen, Dingen und Konzepten (wie Holakratie) bestehenden Umwelt schon immer mein größtes Interesse war, also die Beziehung als sogenanntes „drittes Element“, sah ich es im Rahmen von Implementierungen als unumgänglich an, diese Räume zu schaffen. (Das ist übrigens nach den holakratischen Regeln absolut erlaubt.) Nur wenn sich das Ich mit der Holakratie verbinden wollen kann und sich ihr fragend und in seinem eigenen Tempo nähern darf, werden wir eine reiche holakratische Praxis entwickeln. Hierfür braucht es in meinen Augen eine beherzte Holakratie.

Wald: Welche Rolle kann HR im Kontext von Holokratie spielen? 
Nowicki: Lieber Herr Wald, hier würde ich mir die ausführliche Antwort gern für meine Keynote aufheben. Doch soviel sei gesagt: Die Rolle von HR wird genauso wenig überflüssig wie Führungsarbeit selbst. Vielfach wird vermeintlich kurzgeschlossen, dass es in der Holakratie keine Führung gibt. Das stimmt so nicht. Führungsaufgaben werden anders verteilt, und die Ausübung dieser neuen Führungsrollen will gelernt werden. Ebenso hat die Unterscheidung zwischen Mensch und Rollenfüller (oder gemäß der neuen Holakratie-Verfassung Role Lead) zur Folge, dass auch HR und die Aufgaben von HR anders zu begreifen sind. Das sehe und erlebe ich derzeit als große Herausforderung. Hier gibt es wirklich enorm viel zu tun. Und was es dabei für jeden HR-Mitarbeitenden vor allem braucht, ist eine eigene, interessierte und professionelle Beziehung zu Holakratie inklusive einer großen Portion Pioniergeist.

Wald: Meine Standardfrage zum Abschluss der Vorab-Interviews lautet wie immer. Warum kommen Sie zum HR Innovation Day nach Leipzig?
Nowicki: Ich muss ehrlich sein, zunächst einmal, weil Sie mich eingeladen haben. Vielen Dank noch einmal dafür. Aber es gibt natürlich auch andere Gründe. Insbesondere freue ich mich auf hoffentlich viele unterschiedliche Menschen, die ähnliche Interessen teilen und Freude am Diskurs haben. Außerdem gebe ich gern meine inzwischen recht vielfältigen Erfahrungen mit Holakratie- Implementierungen weiter. Vor allem hege ich die Hoffnung, dass sich dadurch andere Menschen, wenn sie zukünftig mit Holakratie in Berührung kommen, nicht durch den vermeintlichen Hype verführen lassen. Ich wünsche mir ein bewusstes Hinschauen, welche Voraussetzungen für eine Holakratie-Implementierung unbedingt gegeben sein sollten und einen allzeit beherzten Umgang mit der holakratischen Praxis.

Meine Gesprächspartnerin Stephanie Nowicki arbeitet seit Oktober 2019 für Hypoport - zunächst im Kreis hola::be der Hypoport Muttergesellschaft. Seit der Ausgründung ist sie in der Hypoport hub SE als Lead Link "Organization & Learning" für die Integration der Felder Organisationsentwicklung, Holakratie-Implementierung, People Development und Lernen zuständig. Stephanie Nowicki war in ihrem ersten Beruf Studienrätin an Sonderschulen für Kinder mit geistigen und schwersten Mehrfachbehinderungen und arbeitete danach mehr als 17 Jahre im eigenen Beratungsunternehmen in den gleichen Feldern wie in der Hypoport hub. Ein zusätzlicher Schwerpunkt in ihrer Coaching-Arbeit liegt seit langem in der Biographiearbeit zur Unterstützung der persönlichen Identitätsfindung.

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