Peter: Vornweg ganz herzlichen Dank, dass Du wieder dabei bist und Dein Know-how mit den Teilnehmer:innen des Workshop teilen wirst. Wir treffen uns endlich wieder nach dieser langen Corona-Pause. Was ist bei Dir bzw. mit intercessio in den letzten Jahren passiert.
Barbara: Der Eintritt in die Pandemie mit dem ersten Lockdown hat unser Unternehmen schwer straucheln lassen – unsere Sourcing Aufträge wurden alle storniert, während gleichzeitig Recruiter und Sourcer anfangs mit allem anderen beschäftigt waren, als mit Trainings. So sah das in den ersten zwei Monaten wirtschaftlich gar nicht gut aus, erholt sich dann aber im Juni. Der Grund war, dass wir unsere beiden Qualitäts-Ausbildungsprogramme einführten: Die Master Class Talent Sourcing (Abschluss: Master Sourcer nach 6 Monaten) und das Sourcing Professional Programm (Abschluss als Sourcing Professional nach 3 Monaten) ins Leben, die großen Anklang fanden. Die Absolventen sind so viel treffsicherer und schneller in ihren Sourcing Projekten mit mehr Fun – alles geht ihnen leichter von der Hand. Dann kamen langsam auch die ersten Sourcing Aufträge zurück. Die ersten Inhouse-Trainings fanden aber erst in 2021 wieder statt, das hat länger gebraucht, bis Unternehmen diese Entscheidung getroffen haben, wobei das aktuell meist Fortgeschrittenen Trainings waren.
Peter: Gab es in den letzten Jahren Veränderungen im Sourcing? Welche Trends sind hier aus Deiner Sicht besonders hervorzuheben?
Barbara: Es sind sehr große Trends im Sourcing zu erkennen:
- Der erste Trend ist ein erschreckender Verlust der Kommunikationsqualität mit potentiellen Kandidaten. Durch Corona habe noch mehr Recruiter:innen angefangen, potentielle Kandidaten anzusprechen, aber leider ist die Qualität dabei in der Summe gesunken, während die Verzweiflung aller Recruiter:innen gestiegen ist. Bei kritischen Jobs wie Tech-Funktionen wie DevOps oder Java Developer oder Digital Marketing Funktionen wie Content Manager oder SEO-Experten, nur um ein paar Beispiele zu nennen, findet man insgesamt weniger Kandidaten, weil diese sich durch Löschung der relevanten Keywords von ihren Profilen schützen oder ganz Social Media verlassen haben. Ergo sind die Antwortquoten überall dort nach unten gegangen, wo es ein nicht eine klare Strahlkraft im Employer Branding gibt (Noch nie war ein gutes Employer Branding so der Motor der Kommunikation auch mit passiven Kandidaten, wie jetzt).
- Der zweite Trend ist eine Negativ-Entwicklung im Sector der Sourcing Tools bis zum Tool-Sterben. Eines der wichtigsten Tech-Sourcing Tools, Stackover Flow Talent gibt es nicht mehr. Wir erfahren gerade massive Qualitätsverluste der Tools für fortgeschrittene Sourcer wie z.B. XING und LinkedIn. XING hatte bereits vor Corona, die Sourcing-Möglichkeiten mit ihrem kostenlosen Account beendet und die Sourcing-Chancen des Prämien-Accounts extrem eingeschränkt. Während Corona konnte man beobachten, dass diese Einschränkungen verschärft wurden. Das setzt sich leider auch in ihrem Premium Sourcing Tool, dem XING TalentManager fort: Es wurde für Sourcing-Anfänger verbessert und damit für Fortgeschrittene eingeschränkt. LinkedIn ist einen anderen Weg gegangen: Auch hier ist es nun seit Corona nicht mehr möglich, mit dem kostenlosen LinkedIn Account noch erfolgreich Active Sourcing zu betreiben. Jedoch auch der Premium-Account (Business Account) wurde in seinen Möglichkeiten treffsicher zu suchen eingeschränkt: Bei beiden ist das Ziel ist erkennbar, dass der Schutz der User in den Vordergrund tritt. Allerdings wurde, im Gegensatz zu XING, das Premium Tool bei LinkedIn der „Recruiter“ sowohl für Anfänger wie für Fortgeschrittene intensiv verbessert und erhielt neue hilfreiche Funktionalitäten.
Barbara: Der Begriff „Blue Collar“ (englisch für blauer Kragen im Gegensatz zu „White Collar“ – englisch für weißer Kragen) kommt aus den USA. Er kann am besten mit gewerblichen und sozialen Berufen übersetzt werden. Also geht es hier um die Fachkräfte, die nicht typischerweise im Office arbeiten von den angelernten Kräften wie Pflegehelfer oder Staplerfahrer, Lehrberufen aus Industrie und Handwerk wie Maurer, Mechaniker, Elektroniker oder auch Krankenpfleger bis hin zu Fachwirten und wie Monteur, Techniker oder Meistern. Betrachtet man den Fachkräftemangel aktuell aus der Vogelperspektive bestätigen alle Studien und Übersichten, dass 70 % des größten Bedarfs die „Blue Collar Worker“ sind. Klassische Stellenanzeigen und eine Facebook-Page mit ein paar Facebook-Anzeigen können den hohen Bedarf der Unternehmen nicht mehr decken. Dieses Post-and-Pray ist heute bereits ein Teil des Fachkräftemangels. Auch hier muss ein Unternehmen proaktiv auf potentielle Kandidaten zugehen. Und das geht eben auch mit Active Sourcing. Weil diese Zielgruppe in der Zwischenzeit in Social Media ja sogar in Business Netzwerken zu finden ist. Man kann sie dort proaktiv erreichen. Allerdings gilt für das Finden und Ansprechen der Blue Collar Fachkräfte: Es funktioniert nur dann erfolgreich, wenn man sich an diese so anders tickende Zielgruppe anpasst. Zum Beispiel: Blue Collar Worker füllen ihre Profile anders aus.
Peter: Ich stelle hier bei vielen mittelständischen Unternehmen eine beträchtliche Skepsis fest, was das Sourcing gewerblicher Fachkräfte angeht. Worauf ist diese Skepsis zurückzuführen?
Barbara: Viele mittelständischen Unternehmen haben bis heute selten Ansprechpersonen, die gezielt für das Recruiting abgestellt werden und wenn, fehlt diesen die Zeit. Das Bewußtsein, dass Active Sourcing nicht nur möglich ist und proaktive Ansprache notwendig ist, ist vielfach noch nicht vorhanden. Jedoch um Active Sourcing erfolgreich zu betreiben, muss dies gelernt werden, man braucht teure Tools und Zeit, um Erfahrung zu sammeln. Das ist eine Kosten-Nutzen-Analyse, die leider oft nicht gerechnet wird. Leider, denn auch im Mittelstand kosten unbesetzte Stellen oder Fehlbesetzungen unglaubliche Summen. Active Sourcing könnte für viele eine große Hilfe sein.
Peter: Wo siehst Du die größeren Herausforderungen beim Sourcing allgemein in der Zukunft?
Barbara: Viele denken, die KI wird die Hilfe der Zukunft auch im Sourcing sein. Das glaube ich nicht, denn selbst bei allerbester KI bleibt das Kernthema die Mensch-Mensch-Beziehung. Und hier beobachte ich aktuell, dass eine immer geringer werdende Empathie auf beiden Seiten: So viele Recruiter* und Kandidaten* waren schon vor Corona überlastet. Doch der persönliche Druck steigt und Abhilfe ist nicht in Sicht: Die Herausforderungen der letzten Monate von Corona, Existenzängsten, (Zwangs-)Digitalisierung des eigenen Arbeitsplatzes und der betreuten Funktionen, den Auswirkungen des Ukrainekriegs von den unglaublich belastenden Fotos bis zur Veränderung des ganzen Systems der aktuellen Weltwirtschaft trifft Menschen in ganz unterschiedlicher Form. Das Ergebnis ist, dass nicht nur Recruiter*, sondern auch alle Kandidaten* immer mehr mit sich selbst beschäftigt sind, als mit dem Job. Man kann es daran erkennen: Viele sind weniger online, der Ton wird direkter, teilweise sogar rauer. Alle Seiten wollen sich mehr als je zuvor absichern und sind viel vorsichtiger geworden: Sie wägen lange ab, bevor sie Entscheidungen treffen. Da das Sourcing aber die von den latent-suchenden bis passiven Kandidaten eher genau diese noch nicht entschiedenen Kandidaten hat, wird es nur dann noch skalierbar erfolgreich mit zusätzlicher Empathie, Prozess Exzellenz und einem klaren Bild von der Zielgruppe bzw. Candidate Personas. Die zentrale Herausforderung ist deshalb, die Sourcing Tools systematisch zu nutzen und nicht alles dem Zufall aka Tools zu überlassen, also geht es um Prozess Exzellenz.
Peter: Meine Standardfrage kommt zum Schluss. Du bist bereits sehr oft beim HR Innovation Day dabei gewesen, warum kommst Du erneut nach Leipzig?
Barbara: Ich könnte jetzt einfach sagen: Weil ich das Glück habe, dass ausgerechnet mein Lieblingsevent auch das erste Event ist, dass nach den Corona-Einschränkungen stattfindet und ich endlich wieder live auch die Kollegen treffen werde. Nicht zu vergessen: Ich habe in den letzten Jahr Mitarbeiterinnen aus Leipzig eingestellt, die ich nun zum ersten Mal auf dem #HRInnoDay22 persönlich kennenlernen werde. Ist beides genauso auch richtig, aber dazu kommt noch, dass ich mich super auf den hochwertigen Content freue und ich schon seit Tagen grüble, welche Sessions ich besuchen werde. Du hast es mir wieder sehr schwer gemacht, aber dafür danke ich Dir ganz herzlich, weil das genau das tolle Event auszeichnet.
Meine Interviewpartnerin, Barbara Braehmer, ist Geschäftsführerin der Intercessio GmbH in Bonn. Sie sieht sich als pragmatische Talentfinderin, Expertin im ‚Finden‘ talentierter Mitarbeiter und ist Talent Acquisition Expertin, Master-Sourcerin und Autorin. Sie ist als Rednerin und Expertin sowohl Organisatorin als auch geschätzter Gast auf verschiedenen Konferenzen. Nach 20 Jahren HR-Berufserfahrung sowohl als langjährige Personalmanagerin als auch Personalberaterin gründete sie 2005 die Intercessio GmbH. Intercessio ist ein Recruiting-Consulting- und Service-Unternehmen, das seine Kunden auch durch Recruiting/Sourcing Aufträge (RPO) unterstützt und wurde vor 6 Jahren um die Intercessio-Akademie erweitert, die auf Human Resource, Recruiting und Sourcing Trainings spezialisiert ist. Barbara Braehmer ist Autorin des Buches „Praxiswissen Talent Sourcing“ und Co-Autorin des Praxishandbuches "Social Media Recruiting: Experten Know-How/Praxistipps/Rechtshinweise“ - dem bislang umfangreichsten Buch zu dieser Thematik.
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