Dr. Sven Sebastian |
Wald: Es ist eine große Freude, dass ich Sie für erneut für einen Beitrag zum HR Innovation Day gewinnen konnte und das Sie auch für dieses Gespräch zur Verfügung stehen.
Sebastian: Vielen Dank für die erneute Einladung. Es freut mich immer wieder zu aktuellen HR Themen aus der Sicht der Hirnforschung und Neurowissenschaften Stellung nehmen zu dürfen.
Wald: Welches HR Thema beschäftigt Sie zurzeit persönlich besonders?
Sebastian: Ich stelle mir zurzeit die Frage inwieweit das in virtuellen sozialen Netzwerken wie Facebook oder WhatsApp geforderte Digital Personality Stripping zur Identitätskonformität in der modernen Arbeitswelt passt.
Wald: Was verstehen Sie als Neurowissenschaftler unter Digitalisierung und Virtualität?
Sebastian: Virtualität ist eine Eigenschaft eines Dinges oder Konstrukts, welches für das menschliche Gehirn mittels neuro-biologischer Prozesse als existent wahrgenommen wird, obwohl es im Moment der Betrachtung oder des Geschehens so nicht real existiert. Ein Konstrukt wird allerdings vom Menschen nur dann als virtuell erkannt wenn es auch Features und eine Gestalteigenschaften von real wahrnehmbaren Dingen besitzt. Alles andere wäre eine Fiktion oder Illusion. Der Begriff Digitalisierung bezeichnet somit die Überführung analoger Größen in diskrete Werte (digitale Daten). Ziel dabei ist es, Information elektronisch so zu erfassen, das diese vom menschlichen Gehirn weiterhin genutzt, verteilt, wiedergegeben, gespeichert oder verarbeitet werden kann.
Wald: Worin sehen Sie Vor- und Nachteile der zunehmenden Digitalisierung und Virtualität der modernen Arbeitswelt?
Sebastian: Ökonomisch betrachtet ermöglichen sowohl Virtualität und Digitalisierung eine Effizienzsteigerung und damit eine Verbesserung der Wirtschaftlichkeit. Betriebsabläufe können schneller und kostengünstiger abgewickelt werden. Die grundlegenden Vorteile der Digitalisierung liegen dabei in der Schnelligkeit und Universalität der raum- und zeitübergreifenden Informationsverbreitung. Der Platzbedarf für den gewünschten Informationsaustausch ist sehr gering, auch bei langen Transportwegen und nach vielfacher Bearbeitung sind Fehler und Verfälschungen im Vergleich zur analogen Verarbeitung gering oder können ganz ausgeschlossen werden. Digitale Unternehmen zeichnen sich durch eine optimale Skalierung, Anpassungsfähigkeit und Transparenz aus. Virtualität erlaubt ein ressourcen- und kostenschonendes sowie ein zeit- und raumübergreifendes „Ausleben“ der natürlich gegebenen Imaginations- und Kreativitätskräfte des menschlichen Gehirns. Die Nutzung von virtuellen Räumen und Modellen im Bereich der Produktentwicklung oder des Innovationsmanagements zum Beispiel bietet einen immensen Vorteil gegenüber analoge Lösungen, die häufig zu viel Zeit, Raum und Kosten, aber auch organisatorischen Aufwand erfordern.
Epigenetisch betrachtet ist festzustellen: Sowohl die Digitalisierung als auch der Einsatz einer virtuellen „Realität“ verändert immer die Funktionalität und Struktur der menschlichen Gehirne, sprich Menschen, die damit arbeiten. Ob wir es wollen oder nicht. Welche Auswirkung dies auf die sozial-kulturelle und kommunikativ-interaktive Ebene von Organisationen, Teams, Gesellschaften und Unternehmungen hat, kann noch keiner wirklich beantworten. Ja, manch einer spricht sogar von der digitalen Demenz oder von einem schleichenden „Stoning“ in einer digital-virtuellen Welt.
Wald: Übertreiben Sie da nicht ein wenig?
Sebastian: Nicht im Geringsten. Die Erkenntnisse aus der Hirnforschung und Neurowissenschaften sprechen da eine klare Sprache. Lassen Sie mich ein paar Fakten nennen, die durchaus Beachtung finden sollten wenn es darum geht, digitale und virtuelle Lösungen im Bereich der Unternehmenskultur und des HRMs zu etablieren.
Erstes Beispiel: Digitalisierte Arbeitswelten „vergiften“ die Kommunikation. Warum? Der Austausch zwischen Menschen ist ein hochkomplexer Prozess. Insbesondere für unser Gehirn. Millionen von Reizen werden von uns dazu im Alltag pro Sekunde abgerufen und ausgewertet. Dieser Prozess trägt dazu bei wie und was wir entscheiden, welchen Ereignissen und Dingen wir unsere Aufmerksamkeit und Konzentration schenken, worüber wir nachdenken und wie wir Situationen emotional bewerten bzw. einfärben. Erfährt dieser Vorgang eine digitalisierte „Verarmung“ und „Verengung“ kann das zu Missverständnissen, Fehlinterpretationen und Vorannahmen führen, die wiederum ungewollt das Betriebsklima, das viel geforderte Miteinander und Vertrauen „vergiften“.
Zweites Beispiel: Digitale Welten (be)fördern Info-Junkies. Unser Gehirn liebt jegliche Form der Information. Es ist ein egozentrischer „Informations-Junkie“. Egal welche Art diese Daten sind, allein die Vielzahl und Verschiedenheit macht dem Gehirn Lust und Freude. Alle in der modernen Arbeitswelt erwünschten neuro-kognitiven Funktionen wie Analysieren, Planen, Bewerten, Entscheiden werden über diese Lust beflügelt. Dabei wird alles Wichtige und Unwichtige wahr- und aufgenommen. Nur um das Gefühl zu bekommen selbst wichtig, sozialisiert und sichtbar zu sein. Das Fatale an der digitalisierten Informationsflut ist jedoch das in ihr wohnende Unsoziale. Wir wissen oft nicht genau wer wirklich hinter einer Aussage, Meinung oder Nachricht steckt und für wen eine Information eigentlich bestimmt ist. Der zwischenmenschliche Austausch mittels digitalisierter Daten in virtuellen Welten ist neurowissenschaftlich streng genommen überhaupt kein sozial-kultureller Kontakt. Das ist vergleichbar mit einem digitalisierten Haustier, welches aus einer virtuellen Welt heraus einem an tödlichem Krebs leidenden Patienten soziale Wärme und Beruhigung geben soll.
Drittes Beispiel: Digitale Lösungen reduzieren kognitive Fähigkeiten. Ein Gehirn der Generation 4.0 braucht in der digitalisierten Informationswelt von Anfang an keine Anrede oder wertschätzende Umschreibungen und Formulierungen mehr. Gehirne 4.0 sind auch weitestgehend nicht mehr in der Lage komplexe Zusammenhänge zu erfassen, individuelle Rückschlüsse über das Ganze zu erfassen und individuelle Bewertungen über einen längeren komplexeren Sachverhalt zu generieren. Dies ist ein Resultat der digitalen Funktion „copy and paste“, die Menschen dabei unterstützt ohne lange Nachdenken Textbausteine zu übernehmen oder ganze Doktorarbeiten zusammen zu puzzeln. Mitarbeiter, die dazu angehalten werden, sich an eine digitale Umgebung zu adaptieren verlernen regelrecht das analytische Denken. Sie verlieren die Fähigkeit sich auf bestimmte Inhalte und Textbausteine zu konzentrieren und die damit gewonnene Information zu analysieren. Zu schnell sind wieder neue Daten, Fakten und Meinungen in der Mailbox oder im Internet zu finden die alle irgendwie interessant sind. Menschen verlieren also zunehmend die Fähigkeit Wichtiges zu erkennen und das Unwichtige beiseite zu lassen. Zu viel Information bedeutet im Alltag immer geringere Entschiedenheit. Was wiederum den Einzelnen beunruhigt und unkonzentriert macht.
Viertes Beispiel: Digitalisierte Arbeitswelten machen süchtig. Fällt aus irgendwelchen Gründen die Möglichkeit aus sich mittels digitalen Tools in virtuellen Welten auszutauschen kann es bei einer Vielzahl von Anwendern zu Symptomen kommen, die deutlich auf eine Abhängigkeit im klinischen Sinne hinweisen. Man spricht dann von einem „kalten Entzug“. Schweißausbrüche, erhöhte Nervosität und innere Unruhe, Herzklopfen, Verdauungsstörungen, Konzentrationsstörungen, bis hin zu depressiven Verstimmungen und im schlimmsten Fall Selbstmordabsichten sind mit dem Verzicht oder dem Ausfall der digitalen Medien verbunden.
Fünftes Beispiel: Digitalisierte und virtuelle Welten töten soziale Empfindungen. Immer wenn es im Arbeitsleben zu Meinungsverschiedenheit oder Auseinandersetzungen kommt braucht es von allen Beteiligten eine gewisse Portion an sozial-kultureller Empfindungsfähigkeit und Standfestigkeit. Aber genau diese Eigenschaften werden in digitalisierten und virtuellen Welten und „Kontakt-Tanks“ nicht gefordert und gefördert. Das Setzen eines „Like“ oder „Dis-Like“ führt noch lange nicht zu einer entsprechend emotional und kognitiv empfundenen Reaktion im menschlichen Körper. Im Gegenteil. Dieser Akt kann sogar zu einer technisierten Gefühlsleere führen. Ich „wähle“ Menschen ab, je nach inter-individuellen „Gutsherrenmanier“.
Wald: Wenn man Ihnen so zuhört könnte man meinen Sie finden nicht wirklich Gutes an der Digitalisierung und Virtualität, zum Beispiel im Bereich des HRMs?
Sebastian: Mitnichten. Software as a Service (SaaS) Lösungen werden die Aufgabenbereiche von Personalabteilungen spürbar erweitern. Das wird ihre Bedeutung im Unternehmen stärken. Gleichzeitig werden digitalisierte Lösungen den Umfang notwendiger administrativer Arbeiten deutlich reduzieren. Dies umfasst Themen wie Urlaubs- und Arbeitszeitplanung, Mitarbeiterempfehlungsprogramme, Feedback-Lösungen, Employer Branding Tools, Bewerbermanagement-Lösungen, Matching Tools und vieles mehr. Fast jeder Prozess im HR kann durch eine digitale Abbildung optimiert werden und damit komfortabler und effizienter werden. Jedoch ist dabei immer auf die Passung zwischen Mensch und Maschine zu achten. Um es kurz zu sagen: Voraussetzung für eine optimale Umsetzung einer digitalisierten Arbeitswelt, unabhängig von dem angestrebten Grad und dem Niveau der Digitalisierung, ist die zielgerichtete Co-Adaptation oder auch Co-Evolution der beiden Hauptfaktoren bestehend aus Mensch und Medium.
Wald: Wie können oder besser sollten Menschen mit diesen Entwicklungen in ihrem beruflichen Kontext umgehen?
Sebastian: Zunächst sollten wir eines nicht vergessen: Virtualität und Digitalisierung sind Ergebnisse der herausragenden neuro-kognitiven Leistungsfähigkeit des menschlichen Gehirns. Und dieses kennt nur einen Wunsch: Mit viel Freude, Leidenschaft und Lust zu überleben. Daher sollten wir in unserem Alltag, privat wie beruflich, Virtualität und Digitalisierung ausschließlich im Interesse einer besseren Leistungsfähigkeit und Gesundheit sowie eines wachsenden Wohlbefindens einsetzen. Die Realität sieht allerdings häufig anders aus.
Wald: Wie meinen Sie das?
Sebastian: Nun, mit der Virtualität und Digitalisierung scheint es mir zur Zeit manchmal zu sein ist wie mit der Immobilienblase in Berlin. Alle wollen dabei sein, investieren ohne genau zu wissen ob es auch der versprochenen Wertsteigerung entspricht. Am Ende platzt die Bombe und es bleiben ein paar Gewinner und eine Vielzahl an Verlierer übrig. Wer nur aus einer spontanen Laune oder aus Angst heraus digitalisiert und virtuelle Wege geht, der kauft sich in der Regel eine unwiederbringliche Zerstörung von sozial-kulturellen Strukturen und menschlichem Kapital ein.
Wald: Lässt sich eine Unternehmenskultur auch digital und virtuell in die Köpfe der Beteiligten "einpflanzen“? Gibt es hier Unterschiede zwischen den Generationen?
Sebastian: Sicher können Sie unter Androhung von Strafe und Nachteilen oder durch Belobigung und Wertschätzung die Akzeptanz einer digitalisierten und virtuellen Unternehmenskultur „erzwingen“. Aber dann werden Sie immer nur die Hälfte vom möglichen Erfolg und Gewinn realisieren können. Nur wer den wahren Nutzen einer digitalisierten Lösung erkennt, diese mit Freude und Lust anwendet, sich dabei sicher fühlt wird eine entsprechende Routine und Akzeptanz gegenüber dieser Lösungen aufzeigen.
Wald: Wie viel digitale Affinität des Einzelnen brauchen digital kreierte Unternehmenskulturen?
Sebastian: Die digitale Affinität ist ein Grundpfeiler, ja die Basis für eine digital kreierte Unternehmenskultur. Daher ist es auch notwendig alle Beteiligten behutsam, mit Geduld, viel Verständnis und ausreichend Zeit an digitalisierte Konzepte heranzuführen. „Affinität“ steht ja für „Erreichbarkeit“ und für die „Bindung“ an Etwas. Das bedeutet bezogen auf digitale und virtuelle Welten: Sie müssen zu jeder Zeit zur Verfügung stehen, einfach zu bedienen sein, einen Nutzen im Gehirn des Anwenders „treffen“. Nur so kann eine echte Verbindung und Bindung entstehen.
Wald: Welche Aufgaben haben Unternehmen und Personaler, um bei fortschreitender Digitalisierung das menschliche Element nachhaltig zu berücksichtigen? Welche Empfehlungen können Sie hier aus Sicht der Neurowissenschaften geben?
Sebastian: Menschen müssen trotz aller Digitalisierung immer wieder die Möglichkeit erhalten miteinander zu kommunizieren. Direkt und leibhaftig. Weiterhin gilt es immer wieder den Produktionsfaktor Mensch bezüglich der Anwendung und dem Umgang mit digitalen Medien einzuschätzen. Hierbei ist es erforderlich zu verstehen wie Menschen mit diesen neuen Systemen grundsätzlich umgehen und wie eine Synthese erreicht werden kann. Die Idee ist, eine neuro-kognitive Adaptation von Mensch/Gehirn und digitaler Prozesse herzustellen. Nur so können die Ressourcen in beiden Systemen optimal genutzt, ein Zustand der positiven Entwicklung sowie eine echte stabile Co-Adaptation hergestellt werden. Dies bedeutet sich immer wieder vertiefend mit dem biologischen Wesen Mensch zu beschäftigen und dessen grundsätzlichen neurobiologischen Prozessierungen zu verstehen. Solange menschliche Gehirne (noch) eine Bedeutung in einem Unternehmen haben, sie also nicht nur als eine Notwendigkeit zur Umsetzung von digitalen Strukturen und Innovationstechnologien verstanden werden, ist es wichtig alle am Prozess Beteiligten weiter zu entwickeln, sie einzubinden und deren neuro-kognitives Setting als eine Teil der sich entwickelnden Digitalisierung zu verstehen. Und, das sollte man nicht außer Acht lassen, es müssen auch Lösungen zur Verfügung stehen wenn es einmal zum Stromausfall kommt.
Wald: Eine Frage zum Schluss. Warum nehmen Sie erneut am HR Innovation Day teil?
Sebastian: Zunächst haben Sie mich sehr wertschätzend dazu eingeladen und mir die freie Wahl gegeben zu entscheiden ob ich teilnehmen will oder nicht. Das gefällt meinem Gehirn. Weiterhin reizt mich das Thema sehr und ich freue mich insbesondere auf den Austausch und die Diskussion mit allen „frischen“ und aufgeweckten Gehirnen vor Ort. Das ist eine wahre „Frischzellenkur“ für meine neuronalen, dynamisch-virtuell arbeitenden Matrixstrukturen im präfrontalen Kortex und im limbischen System.
Wald: Herzlichen Dank für das Gespräch. Auf Ihre Keynote und die Diskussionen mit den Teilnehmer/-innen freue ich mich sehr.
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