Montag, 1. Februar 2021

Erfahrungen mit Digitalisierungsprojekten im Blue-Collar-Bereich - Interessante Insights im Gespräch mit Periklis Stavrinos von Carglass

Beim IOM-Summit im September des letzten Jahres ist mir ein Vortrag besonders ins Auge gefallen. Es handelte sich um die interessante Vorstellung eines konkreten Digitalisierungsprojektes im Blue-Collar-Bereich bei Carglass. Der Bereich der Blue-Collar-Worker wird derzeit bei den vielen Diskussionen, vor allem wenn diese sich um Homeoffice und mobile Arbeit drehen, viel zu wenig betrachtet. Die Flexibiliseirungs- und Digitalsierungspotenziale im Bereich gewerblicher Mitarbeiter werden derzeit nur sehr wenig ausgeschöpft. Ich freue mich deshalb, dass ich dazu Fragen an einen Experten und Erfahrungsträger stellen kann. Periklis Stavrinos ist Product Owner Digital Workplace bei Carglass. Er verfügt über interessante Kenntnisse in diesem Bereich und seine Learnings ermöglichen tiefe Einblicke in die Besonderheiten von Digitalisierungsprojekten bei gewerblichen Mitarbeitern. Ich freue mich außerordentlich, ihn zu seinen Erfahrungen bei der Etablierung des #DigitalArbeitens in den Service Centern von Carglass befragen zu können.


Wald: Vornweg herzlichen Dank für die Möglichkeit einige Fragen zu diesem interessanten Projekt an Sie stellen zu können.
Stavrinos: Sehr gerne! Ich freue mich darauf und hoffe, dass unsere Erfahrungen dem einen oder anderen Leser bei ähnlichen Vorhaben weiterhelfen können. 
       

Wald: Können Sie kurz das konkrete Projekt bei Carglass beschreiben?
Stavrinos: Im Bereich Digital Workplace laufen mehrere Projekte rund um digitale Tools, die unsere Kommunikation und Zusammenarbeit verbessern können. Und natürlich auch mit dem Mind- und Skillset, die mit der immer größer werdenden Bedeutung solcher Tools oftmals gefordert werden. 
Bei den konkreten Projekten, die im Rahmen des IOM-Summits vorgestellt wurde, ging es um die Einführung von diversen Applikationen aus dem Office365-Kontext für die Mitarbeiter unserer operativen Feldstruktur und das über alle Hierarchie-Ebenen hinweg. So lag unser Fokus sowohl auf Führungskräfte wie z.B. unsere Regionalmanager als auch auf Service-Monteure, die unser Pendant zu Blue Collar bzw. Firstline-Worker sind.  

Wald: Sie haben im Vortrag auch das Thema Vorurteile angesprochen. Können Sie dies kurz erläutern?
Stavrinos: Da der Begriff Vorurteile einen negativen Beigeschmack haben kann, spreche ich in dem Kontext lieber von Annahmen. Diese machen wir oftmals bewusst oder unbewusst zu Beginn eines Projekts, um die Komplexität zu reduzieren. Im späteren Verlauf müssen wir dann aber auch überprüfen, ob unsere Annahmen korrekt sind oder verworfen werden müssen. Bei meinen vergangenen Berufsstationen wurde oft die Annahme gemacht, dass sich Blue Collar-Mitarbeiter grundsätzlich schwerer mit digitalen Tools tun. Deshalb sollten sie erst in einer späteren Rollout-Phase berücksichtigt werden. In solchen Fällen beginnt man mit dem Fokus auf Wissensmitarbeiter (was durchaus sinnvoll sein kann…), merkt allerdings nach dem Launch der ersten Tools, dass es hier auch Mitarbeitergruppen gibt, die sich bei der Adoption schwertun. Dann legt man den Fokus der anschließenden Projekte auf dieser Zielgruppe. Und anschließend kommt wieder ein neues Tool, was ausgerollt werden muss… 
In solchen Fällen kann ein Teufelskreis entstehen und es eine Weile dauern, bis die Blue-Collar "drankommen". Und das nur, weil zu Beginn eine falsche Annahme getroffen wurde. 

Wald: Wo sehen Sie Besonderheiten im Vergleich zu anderen Projekten?
Stavrinos: Schon von Anfang an lag bei uns der Fokus auf der gesamten operativen Feldstruktur inkl. unserer Service-Monteure. Die Kollegen sind letztendlich auch der größte Anteil in unserer Mitarbeiterstruktur und generieren mit deren Leistungen unseren Umsatz. Bei den ersten Schritten merkten wir im Projektteam schnell, dass ein großer Teil der Kollegen wesentlich affiner beim Umgang mit digitalen Tools ist, als wir es zu Beginn angenommen haben. In unseren Workshops begegneten wir kaum Bedenken zu einer möglichen "Überforderung" und die Ideen über praktische Einsatzmöglichkeiten solcher digitalen Tools wurden von den Kollegen ohne Schwierigkeiten selbst entwickelt. Bei der späteren Nutzung spielte dann vor allem das konkrete Verhalten der Führungskräfte eine große Vorbildrolle und diente als Orientierung.

Wald: Woran liegt es, dass sich das Mitarbeiterverhalten so stark am Verhalten der Führungskräfte ausrichtet und weniger am Verhalten der Kollegen? Sind die Führungskräfte etwa digital affiner?
Stavrinos: Nein, Führungskräfte sind nicht per se digital affiner. Diese Annahme bzw. dieses Vorurteil kann ich zumindest bei uns dementieren. Unter unseren Service-Monteuren sind Kollegen dabei, von denen ich selbst auch vieles im Bereich IT lernen konnte. Die Ursachen für die starke Orientierung der Service-Monteure am Führungskräfte-Verhalten können wir schwer ermitteln, ich habe aber einige Hypothesen, die wir uns in den kommenden Jahren näher anschauen möchten:
  • Unser Leadership-Model (=Legitimate Leadership) wird tatsächlich in der Praxis stark gelebt und trägt Früchte. So werden viele unserer Führungskräfte von deren Mitarbeitern als natürliche Vorbilder bei neuen Themen anerkannt.
  • Da diese "neue Art von Arbeit" mit digitalen Kommunikations- und Kollaborationstools nicht zum Kerngeschäft gehört, gibt es ggf. manchmal noch Unsicherheit zu dem Ausmaß und der Art der Nutzung. "Ist es wirklich ok, wenn ich mich jetzt damit auseinandersetze oder werde ich dann als unproduktiv eingestuft?" ist eine Angst, die durchaus im (Unter-)Bewusstsein entstehen kann. In solchen Fällen kann das Verhalten der Führungskraft als Orientierung dienen.              
Wald: Welche Rolle spielten Vorkenntnisse bei der Nutzung digitaler Hilfsmittel im privaten Bereich?
Stavrinos: Ich glaube, dass Vorkenntnisse nicht zwingend notwendig sind. Andererseits wird aber die Adoption digitaler Hilfsmittel wesentlich einfacher, wenn im privaten Bereich bereits positive Erfahrungen damit gemacht wurden. Letztendlich werden inzwischen die meisten solcher digitalen Tools zusammen mit Usability-Experten entwickelt, so dass die Einstiegsbarrieren für deren Zielgruppe nicht so hoch sind. Ausnahmen bestätigen natürlich immer die Regel. Links finden Sie eine Sport-Tracking-App, die für eine globale Wohltätigkeits-Challenge von ca. 7.000 Kollegen genutzt wurde (ein gutes Beispiel für Apps, die privat genutzt werden und dann "plötzlich" in einen beruflichen Kontext rücken).

Durch die Corona-Pandemie mussten bei uns z.B. viele Kollegen zu MS-Teams schnell "switchen". Und obwohl das entsprechende Support-Angebot zu Beginn nicht besonders umfangreich war, haben sich die meisten selbständig "reingefuchst". Gleichzeitig merkten wir in den ersten Monaten der Pandemie, dass ähnliche Tools auch Einzug ins Private gefunden haben und dadurch eine "Transferleistung" in beiden Richtungen stattgefunden hat. Ein Produkt-Feauture wie die "Breakout-Rooms" in Zoom, die einige Kollegen privat nutzten, wurde dann plötzlich auch für die Teams-Meetings mit den Kollegen angefordert. Sowohl die Adoption als auch die Ansprüche sind also stark gestiegen.             


Wald: Sie haben im Vortrag die besondere Rolle des Customer Contact Centers (CCC) hervorgehoben? Woran liegt das?
Stavrinos: Eines der Zukunftsthemen bei Carglass ist der potentielle Einsatz von Voice Bots im Bereich des telefonischen Supports für unsere Kunden. Und genau dieses innovative Thema wird von den Kollegen im CCC getrieben. Statt dem digitalen Wandel mit Skepsis und Angst vor potentiellen Jobverlusten zu begegnen, setzt man sich als Unternehmensbereich aktiv damit auseinander. 
Denn bei einer Entlastung unserer CCC-Agenten durch die automatisierte Bearbeitung einfacher Anfragen entsteht ein großes Potential, um Kunden mit komplexeren Bedürfnissen besser betreuen zu können. Oder auch um neue Aufgaben zu übernehmen, wie z.B. das systematische Bündeln von Kunden-Insights.  
Diese positive Haltung und das proaktive Handeln bei den Kollegen unseres CCC finde ich sehr beachtenswert und ein gutes Beispiel, wie man die Chancen einer digitalen Transformation besser für sich nutzen kann.   

Wald: Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Learnings?
Stavrinos: Schon bei unseren ersten Pilot-Projekten merkte ich, dass meine tägliche Arbeit meilenweit von dieser eines Service-Monteurs entfernt ist. Es war also wichtig, mehr eine Coach-Haltung anzunehmen und weniger als "Spezialist für digitale Tools" aufzutreten. Das fiel mir nicht immer leicht, v.a. bei direkten Fragen zu meiner "Experten-Meinung"… Das selbständige Erarbeiten der Lösungen von Personen, die das tägliche Doing verstehen, ist aber mMn. einer der wichtigsten Erfolgsfaktoren bei solchen Vorhaben. Ansonsten bin ich sehr froh, dass wir bei allen Projekten größtenteils iterativ vorgegangen sind. Wir haben vor der Einführung neuer Tools immer Pilotprojekte durchgeführt und die daraus resultierenden Learnings für die weiteren Schritte genutzt. So konnten wir früh unsere Annahmen überprüfen und regelmäßig neue Erkenntnisse gewinnen. Und ein ganz positiver Nebeneffekt: die positiven Erlebnisse aus den Pilotregionen haben sich sehr schnell herumgesprochen und eine natürliche Nachfrage für diese Tools erzeugt.

Wald: Wie könnten diese Learnings bei Folgeprojekten berücksichtigt werden?
Stavrinos: Das Ziel unseres Bereichs ist es, alle Projekte im Employee-Experience-Kontext künftig nach einem vordefinierten Design Thinking-ähnlichen Prozess abzuwickeln. Dabei wollen wir schnell unsere Zielgruppen verstehen und "kleinere" Lösungen mit Nutzern erproben. Aus diesem Grund soll bei künftigen Folgeprojekten weiterhin stark mit Pilot-Regionen zusammengearbeitet werden. Parallel dazu versuchen wir, unsere Insights/Learnings aus den einzelnen Projekten besser zu bündeln und diese auch anderen Kollegen zur Verfügung zu stellen, um künftig bessere Entscheidungsgrundlagen (z.B. für die Priorisierung von Projekten) zu haben.   

Wald: Ganz herzlichen Dank für die interessanten Einblicke.
Stavrinos: Vielen Dank auch meinerseits für Ihr Interesse und die vielen spannenden Fragen!

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