Fragen des Umgangs mit dem Thema Arbeitszeit sind und bleiben ein Evergreen betrieblicher Personalarbeit. Aber hier existieren beträchtliche Unterschiede zwischen den Mitarbeitergruppen. Gibt es bei den White-Collar-Workern häufig eine breite Autonomie (Stichwort Vertrauensarbeitzeit) sieht es bei den Deskless Workern vielerorts ganz anders aus. Häufig wird auf „bewährte“ Lösungen aus den zurückliegenden Jahrzehnten industrieller Fertigung zurückgegriffen. Innovationen sind hier Fehlanzeige. Neue Formen der Arbeitsorganisation bzw. des Umgangs mit Arbeitszeit sind ebenso wie in der Pflege, Logistik oder im Handel nur selten zu finden. Ich freue mich deshalb sehr, dass ich erneut einen bekannten Experten für Arbeitszeitfragen für eine Gesprächsreihe mit insgesamt 3 Interviews gewinnen konnte. So haben wir, Guido Zander und ich, genügend Raum, um die verschiedenen Facetten eines neuen Umgangs mit dem Thema Arbeitszeit auch anhand praktischer Beispiele zu beleuchten. Damit bewegen wir uns im Bereich des von Guido Zander und Burkhard Scherf definierten NEW WORKforce Managements, den beide in ihrer Beratungspraxis erfolgreich umsetzen und in einem Buch auch umfassend dargestellt haben. Den Start bildet ein Gespräch zum Thema Sinn und Unsinn einer vollkontinuierlichen Produktion bzw. Schichtarbeit.
Wald: Lieber Herr Zander, ich freue mich, dass ich Sie erneut als Gesprächspartner gewinnen konnte. Ich denke, dass es sich immer wieder lohnt das Thema Arbeitszeit aufzugreifen, weil viele Unternehmen die klassischen Arbeitszeitmodelle als gegeben hinnehmen.
Zander: Danke lieber Prof. Wald für die Einladung zum Dialog. Es stimmt in der Tat, dass gerade bei Deskless-Workern die klassischen Arbeitszeitmodelle bzw. Schichtpläne nach wie vor dominieren und Veränderungsprojekte erst in Angriff genommen werden, wenn es gar nicht mehr anders geht. Leider ist es dann oft schon fast zu spät, weil die Veränderung von Arbeitszeitmodellen selten kurzfristig zu realisieren ist.Wald: Woran liegt es, dass sich so viele Unternehmen scheuen, insbesondere bei den Deskless-Workern beim Thema Arbeitszeit wirklich neue Wege zu beschreiten?
Zander: Die Angst vor Veränderung zieht sich über alle Stakeholder. Das Management fürchtet eine endlose Auseinandersetzung mit Betriebsräten, Betriebsräte haben Angst, Mitarbeitende zu verärgern - gerade jetzt wo wieder Wahlen anstehen - und auch die Beschäftigten haben große Vorbehalte vor Veränderungen, weil in der Vergangenheit Flexibilitätsprojekte sehr oft zu Lasten der Mitarbeitenden gegangen sind. Die Vorbehalte haben also viel mit Misstrauen und einer erlernten und praktizierten Klassenkampfmentalität auf allen Seiten zu tun. Darüber hinaus wissen viele der Beteiligten gar nicht, dass es mittlerweile ganz andere Möglichkeiten im Thema Arbeitszeit gibt wie vor 20 Jahren. Denn durch digitale Workforce-Management-Systeme können heute auch komplexe und zum Teil individualisierte Arbeitszeitmodelle verwaltet werden, was mit Exceltabellen oder klassischen Zeiterfassungssystemen nicht möglich wäre. Da viele dies nicht wissen, suchen sie auch nicht aktiv nach Lösungen.
Wald: Doch jetzt zu unserem heutigen Thema der vollkontinuierlichen Produktion. Für viele Unternehmen scheinen diese Modelle, d.h. die ständige Anwesenheit von Mitarbeitern an 7 Tagen rund um die Uhr unabdingbar zu sein.
Zander: In der Tat. Viele Kundenanfragen zielen bei uns aktuell genau in die Richtung. Man möchte eine klassisches 3-Schicht-Modell auf ein 7*24 Vollkonti-Modell umstellen, um die Produktionskapazitäten möglichst billig auszuweiten. Das möglichst billig ist aber sehr oft ein Trugschluss. Nehmen wir mal an, ein Unternehmen hat aktuell eine 3-Schicht bei einer 40-Stunden-Woche. Derartige Unternehmen haben oft eine Krankenquote von 5-6%. Nun beabsichtigt das Unternehmen die Umstellung auf Vollkonti, um 40% mehr produzieren und damit auch den Umsatz um 40% steigern zu können. Meistens glauben dann alle, dass auch die Kosten „nur“ um 40% steigen. Dem ist aber nicht so. Zum einen werden Kapazitäten oft falsch berechnet, weil man nur die Nettobesetzung für das Wochenende zusätzlich einstellen will, „vergisst“ aber, dass man auch Personal benötigt, dass die Abwesenheiten vertritt. Außerdem fallen am Sonntag in der Regel Sonntagszuschläge von bis zu 50% an. Zusätzlich kommen bei Vollkonti in Verbindung mit einer 40-Stunden-Woche nur unmenschliche und krankmachende Schichtpläne raus. Ich kenne kein Unternehmen mit einer 40-Stunden-Woche und Vollkonti, das eine Krankenquote von deutlich unter 15% hat. Das könnte man nur vermeiden, wenn man die Wochenarbeitszeit im Vollkontibetrieb substanziell auf mindestens 36 Stunden absenkt. Und dann muss man bei einer Umstellung noch damit rechnen, dass nicht wenige Mitarbeitende kündigen werden, weil sie nicht am Wochenende arbeiten wollen. Rechnen wir jetzt mal zusammen: Kapazitätssteigerung um 40%, 20% dieser Steigerung kostet bis zu 50% mehr durch den Sonntagszuschlag, die Krankenquote wird sich nach und nach um 10% erhöhen und neben den 40% Neueinstellungen brauche ich noch Ersatz für die deutlich erhöhte Fluktuation und das bei einem Arbeitsmarkt, in dem keiner mehr Schichtarbeit möchte. Ich möchte jetzt nicht sagen, dass sich das nie lohnt. Es gibt Fertigungsprozesse, die gar keine andere Chance haben als vollkontinuierlich zu produzieren, weil das Hoch- und Runterfahren der Anlagen nicht möglich oder sehr teuer wäre. Und wenn die Fertigungstechnik sehr teuer ist, dann kann sich das auch rechnen. Bei einfachen Fertigungen könnte es aber langfristig tatsächlich billiger sein, noch ein paar zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen als auf Vollkonti umzustellen.
Wald: Die Unternehmen werden aber viele Argumente (Auftragslage etc.) vorbringen, diese Schichtmodelle weiterhin zu nutzen. Vielerorts werden nach meinen Erfahrungen auch entsprechende Wünsche von den Mitarbeitern vorgebracht.
Zander: Das ist richtig. Manchmal geht es auch gar nicht darum, den Umsatz entsprechend zu steigern, sondern einfach nur die Nachfrage bedienen zu können, damit Kunden nicht zu Wettbewerbern abwandern. Das ist durchaus nachvollziehbar. Wenn man aber davon ausgeht, dass die Auftragslage anhält, sollte man aber prüfen, ob es nicht besser wäre, mittelfristig durch zusätzliche Arbeitsplätze/Produktionsflächen das Wochenende wieder freizugeben. Gerade bei schwankenden Auftragslagen kann Vollkonti nämlich tödlich sein. Wenn man schon 21 Schichten produziert, hat man keine Puffer mehr. Wenn dann Anlagen ausfallen, kommt man automatisch in Lieferverzug und muss im ungünstigsten Fall noch Konventionalstrafe zahlen. Aus meiner Sicht ist Vollkonti in etwa so, wie wenn man die Ankunftszeit auf Basis der Maximalgeschwindigkeit eines Autos prognostiziert und sich dann wundert, dass man zu spät kommt, weil man die Maximalgeschwindigkeit nicht durchgängig fahren kann.
Zu den Mitarbeitenden kann man sagen, dass diese sich in den seltensten Fällen explizit Schichtarbeit wünschen. Natürlich gibt es auch da Fans, das hängt aber sehr stark vom jeweiligen Schichtplan ab. Es geht eher um die in Teilen sogar steuerfreien Zuschläge, die man nicht missen möchte. Denn aus einem einst gut gemeinten System zur Kompensation von Arbeit zu unliebsamen Zeiten ist eine perfides Anreizsystem zum ungesunden Arbeiten entstanden. Denn die Zuschläge erlauben es den Unternehmen, die Grundlöhne niedrig zu halten. Das Gehalt wird dann oft inklusive aller Zuschläge vorgerechnet, was dazu führt, dass diese Zuschläge als fester Gehaltsbestandteil gesehen und sogar in Finanzierungen einberechnet werden. Spätestens dann gibt es eine Abhängigkeit, ungesundes Arbeiten beizubehalten. Wir haben in unseren Projekten oft die Situation, dass wir durch alternative Schichtpläne Nacht- und Wochenendarbeit verringern könnten. Das scheitert dann aber am Veto der Mitarbeitenden, die nicht weniger verdienen wollen.
Wald: Wie sieht es aus Ihrer Sicht mit der hier nach dem Arbeitszeitgesetz vorgeschriebenen Gestaltung der Arbeitszeitmodelle nach „gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen über die menschengerechte Gestaltung der Arbeit“ aus?
Zander: Sehr zwiespältig. Denn leider widersprechen sich diese Vorgaben. Denn ein Schichtplan soll einerseits möglichst kurze Arbeitsfolgen, dafür aber möglichst lange Freizeitfolgen und gleichzeitig möglichst viel freie Wochenenden haben. Zudem sollen Frühschichten nicht zu früh anfangen und Nachtschichten nicht zu spät enden. Das alles widerspricht sich. Wenn man lange Freizeitblöcke und viel freie Wochenenden haben möchte, muss man dafür in der Regel sieben Tage am Stück arbeiten. Ich vergleiche Schichtplanung immer mit einer zur kurzen Decke. Irgendwas schaut immer raus, d.h. einen Vorteil auf der einen Seite erkauft man sich immer mit einem Nachteil auf der anderen Seite. Unstrittig ist aber das Thema Nachtarbeit. Wenn man viele Nachtschichten am Stück arbeitet, stellt der Körper seinen Schlafrhythmus komplett um und bei jeder Umstellung gibt es ein paar Tage, in denen man schlecht schläft. Auf Dauer führt dies zu Schlafmangel und dies kann u.a. das Risiko einer Herz-Kreislauf-Erkrankung erhöhen. Dauernachtschichten sind noch viel ungesünder. Das hat aber nichts mit dem subjektiven Empfinden der einzelnen Mitarbeitenden zu tun. In der Tendenz wünschen sich ältere Mitarbeitende eher kurze Nachtschichtfolgen und jüngere eher lange Nachtschichtfolgen, weil die das körperlich noch besser wegstecken können.
Wald: Ich denke, dass die negativen Wirkungen der Vollkonti-Modelle auf die Gesundheit der Mitarbeiter unbestritten sind.
Zander: Definitiv. Wir führen in unseren Projekten regelmäßig Interviews mit Beschäftigten durch und da habe ich mich schon oft mit Mitarbeitenden unterhalten, die seit 20 und mehr Jahren Vollkonti oder sogar in Dauernachtschicht arbeiten. Da sitzen mir dann Menschen gegenüber, die oft 10 Jahre älter aussehen als sie sind, einige haben bereits Herzinfarkte hinter sich, nicht wenige sind geschieden und auch sozial isoliert, weil man durch die viele Wochenendarbeit nie Zeit hat und irgendwann noch nicht einmal mehr eingeladen wird. Wenn man dann aber fragt, ob sie in Tagschicht wechseln wollen, wollen das die wenigsten, weil sie auf die Zuschläge angewiesen sind. Das ist ein Teufelskreis. Das gilt wohlgemerkt bei Vollkonti-Schichtpläne mit einer 40-Stunden-Woche. Pläne auf Basis einer 35-Stunden-Woche können viel gesünder und sozialverträglicher gestaltet werden. Im Umkehrschluss heißt das, dass wir umstellen müssen. Die Kompensation für langes und ungesundes Arbeiten darf nicht länger Geld sein, sondern muss Entlastung durch Zeitgutschriften vorsehen.
Wald: Wie steht es um die sogenannten Teilkonti-Modelle?
Zander: In der Tendenz ähnlich, zumal bei 3-Schicht von Montag bis Freitag immer nur 5er Nachtschichtblöcke möglich sind, was wie bereits erwähnt nicht so ideal ist. Andererseits sind die Wochenenden größtenteils frei und so ist in der Regel ein normales Familien- und Sozialleben am Wochenende gewährleistet. Oft wird Schichtarbeit durchaus auch als Vorteil empfunden, weil man zu unterschiedlichen Zeiten frei hat, in Spätschichtwochen hat man den Vormittag z.B. für Behördengänge oder Arztbesuche und bei Frühschicht kommt man am frühen Nachmittag nach Hause und kann noch was unternehmen.
Wald: Was sind Ihre wichtigsten Learnings bei Projekten zu vollkontinuierlicher Schichtarbeit?
Zander: Was uns am meisten erstaunt hat ist, dass nur die wenigsten Vollkonti-Produktionen tatsächlich vollkontinuierlich sind. Hört sich jetzt komisch an, ist aber so! In unseren Projekten machen wir in der Regel auch Datenanalysen, in den wir Arbeitszeiten, Maschinenlaufzeiten und Produktionsmengen analysieren. Als Ergebnis ist erkennbar, dass im Jahresdurchschnitt nicht 21, sondern z.B. nur 18 oder 19 Schichten produziert werden müsste. D.h. es gibt Zeiten im Jahr, in denen tatsächlich 21 Schichten produziert wird, aber auch Zeiten, in den nur 16 oder 17 Schicht benötigt werden. Trotzdem ist bei vielen die Kapazität und das Schichtsystem auf 21 Schichten ausgelegt. Wenn weniger zu tun ist, sind aber dennoch alle da, weil niemand Minusstunden auf dem Zeitkonto will, weil Mehrarbeit in Vollkontisystemen faktisch nur über Zusatzschichten möglich ist, die keiner machen möchte. Wenn man das aber weiß, dann kann man in Wochen mit weniger Bedarf die Schichten am Wochenende ausfallen lassen, wodurch für die Beschäftigten mehr freie Wochenenden entstehen! Im Gegenzug wird die Planung etwas flexibler, aber insgesamt ist das für alle ein Gewinn.
Wald: Was wären Ihre Tipps für Geschäftsführer und Produktionsleiter für die Umstellung auf Vollkonti?
Zander: Ich würde dringend empfehlen eine Analyse zu machen, wieviel wirklich Flexibilität benötigt wird. Kann man eine Produktion nicht zu 100% kontinuierlich auslasten oder hat man einen störanfälligen Maschinenpark, dann sollte man nicht auf 21 Schichten gehen, sondern die durchschnittliche Anzahl von benötigten Schichten ermitteln. Auf der Basis wird dann die erforderliche Bruttokapazität ermittelt und mit entsprechend flexibilisieren Schichtplänen kann man sich dann auf die Bedarfssituation einstellen. Das ist für das Unternehmen wirtschaftlicher und die Mitarbeitenden haben mehr freie Wochenenden als bei 21 Schichten.
Wald: Vielen Dank für das interessante Gespräch. Unser Gespräch können wir mit einem kleinen Teaser auf das nächste Gespräch abschließen. Wir werden dann über ein neues Projekt von Ihnen sprechen. Um was geht es dabei?
Zander: In dem Projekt geht es um einen Maschinenbauer, der der Versuchung widerstanden hat, mehrschichtig zu werden, sondern lieber Prozesse optimiert und die Hallen vergrößert hat. Und bei dem führen wir jetzt Gleitzeit und selbstbestimmte Gruppenarbeit ein, also New Work-Konzepte im Deskless Workforce-Umfeld.
Mein Gesprächspartner Guido Zander hat Wirtschaftsinformatik an der Otto-Friedrich-Universität in Bamberg studiert und ist seit 2005 geschäftsführender Partner der SSZ Beratung. Seit über zwei Jahrzehnten berät er gemeinsam mit Dr. Burkhard Scherf Unternehmen und Organisationen verschiedener Größen und Branchen zu Fragen des Umgangs mit Arbeitszeit und der Personalplanung. Er gilt deutschlandweit als einer der führenden Experten auf dem Gebiet Arbeitszeitmanagement. Sein Buch „NewWorkforce Management – Arbeitszeit human, wirtschaftlich und kundenorientiert gestalten“, das er gemeinsam mit Dr. Burkhard Scherf geschrieben hat und zu dem ich Ideen sowie ein Vorwort beisteuern konnte ist im April 2021 erschienen und ist regelmäßig in den Top 100-Büchern des Personalmanagements zu finden.
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