Mittwoch, 5. September 2018

Vom Duck-Syndrom oder was HR vom Silicon Valley lernen kann - Interview mit Herwig Kummer

Vor einigen Wochen habe ich einen Post von Herwig Kummer unter der Überschrift „De-Mystifying: HR im Silicon Valley: Rückblick auf meine Lernreise ins Silicon Valley“ gelesen und dabei hat sich bei mir schnell Ernüchterung breit gemacht. Mir fiel in diesem Zusammenhang auch ein, was ein von mir sehr geschätzter Experte über Digitalisierung und ältere Mitarbeiter/innen schreibt: „Ohne fremde Hilfe finden diese nicht ihren Weg in die Amazon-Welt. Die Mitarbeiter müssten mal ins Silicon Valley geschickt ... werden“. Häufig wird doch das Silicon Valley als der Lern- und Erfahrungsort schlechthin beschrieben. Aber offensichtlich entspricht dies nicht die Realität. Ich freue mich deshalb sehr, dass ich Herwig Kummer Fragen zu seinen Erfahrungen im Silicon Valley stellen darf. Herwig Kummer ist ein guter Bekannter aus dem Kreis der HR BarCamper und stand mir als einer der ersten bei meiner Interviewreihe „5 (+1) Frage/n zu den Perspektiven des Personalmanagements“ zur Verfügung.

Herwig Kummer
Peter: Bereits an dieser Stelle herzlichen Dank an Dich, Herwig, dass ich Dir zu Deinem Post einige Fragen stellen darf.
Herwig: Ich bedanke mich bei Dir für die Nachfrage. Sehr gerne stelle ich mich deinen Fragen und berichte mehr über meine Erlebnisse vor Ort.

Peter: Wie bist Du auf die Idee zu dieser Lernreise in das Silicon Valley gekommen?
Herwig: Mich beschäftigt die Frage, wie sich HR Management ändern kann oder muss, um auch in Zukunft unter geänderten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen einen guten Wertbeitrag in der Organisation zu liefern.
Damit meine ich nicht die Begriffe wie Digitalisierung oder Agilisierung, die gerne als Buzzwords von Konferenz zu Konferenz getragen werden. Ich meine damit die grundlegenden Änderungen, die teils schleichend und vielfach auch unbemerkt in Organisationen Platz greifen. Damit passen klassische Konzepte und Instrumente, wie zum Beispiel das jährliche Mitarbeitergespräch, immer weniger. Die großen IT Player im Silicon Valley arbeiten alle agil und digital. Und sie haben – allen Unkenrufen zum Trotz – nach wie vor HR Abteilungen. Ich wollte herausfinden, was HR in den Organisationen so macht und womit diese ihren Wertbeitrag liefern. Mein Ziel war es, Ideen für die eigene Arbeit über den großen Teich in die eigene Organisation zu holen.

Peter: Dein Post zur Lernreise war, gelinde gesagt, ernüchternd. Auf der einen Seite wird den umworbenen IT-Professionals offensichtlich alles und noch mehr geboten, aber anderen Stellen sieht es offensichtlich gar nicht so „berauschend“ aus.
Herwig: Die weltbekannte IT-Szene, die sich in der Bay Area rund um San Francisco in den letzten Jahrzehnten festgesetzt hat, ist dort so dominant, dass diese auch gesellschaftliche Rahmenbedingungen maßgeblich beeinflusst. Das Ergebnis: hohe Lebenshaltungskosten, geringe Kinderraten und extreme Pendlerradien. Mittlerweile erkennt die IT-Szene selbst die Auswirkungen und prophezeit der Region düstere Aussichten. Dennoch zieht das Silicon Valley IT-Professionals und andere Experten aus aller Welt und in großer Zahl an. Denen wird augenscheinlich „alles“ geboten – aber auch „alles“ genommen. Konkrete Arbeitsergebnisse werden erwartet, für Privates wie Familie bleibt keine Zeit. Da wird z.B. ein jährlicher Familyday in einem Vergnügungspark ernsthaft unter dem Titel „Familienfreundlichkeit“ verkauft. Diese Schattenseiten werden allerdings weitgehend ignoriert und vor Ort in den Gesprächen ausgeblendet oder schöngeredet; Der Begriff „Burn Out“ kommt im Alltag nicht vor, und ist für Unternehmen auch nicht relevant. Das Phänomen ist allerdings dennoch vorhanden, bleibt aber dann Privatproblem. Beschrieben wird dies gerne als Duck-Syndrom: Probleme werden ausgeblendet und alles konzentriert sich auf die Sonnenseite. Nach außen glänzt alles, unter der Oberfläche muss heftig gestrampelt werden, um nicht unterzugehen.

Peter: Bei vielen Vorträgen und Diskussionen habe ich bisher nur Euphorie nach Reisen ins „Valley“ vermittelt bekommen. Woran liegt das?
Herwig: Die Arbeit im Silicon Valley ist meiner Beobachtung nach von zwei Aspekten getrieben: Groß denken und rasch umsetzen. Das hat schon eine gewisse Faszination, wenn man sieht, was alles möglich ist bzw. in welchem Tempo es möglich gemacht wird. Das gilt auch für IT Professionals: Mit an Bord zu sein, an großen, richtungsweisenden Projekten mit weltweiter Sichtbarkeit mitarbeiten zu können, ist ein hoher Attraktivitätsfaktor. Vor Ort sieht dann vieles anders aus: Welche Projekte dort realisiert werden, wird oft zentral, also ganz oben entschieden. Und der Erfolgsdruck, in kurzer Zeit aussergewöhnliche Leistungen zu bringen ,ist nicht gerade gering und mit hohem persönlichen Einsatz verbunden. Eine Recruiterin formulierte es so: „Klar kannst Du bei Google 10% Deiner Arbeitszeit für Deine eigenen Projekte verwenden – allerdings machst Du dann zu 90% das, was Google von Dir verlangt.“ Der persönliche Preis für die Arbeit im Silicon Valley ist nicht so bekannt wie die kolportierten Sonnenseiten und sorgt auch schon dort für kleinere Proteste. Dem weltweiten Glanz des Silicon Valley konnte dies aber noch keinen nennenswerten Schaden zufügen.

Peter: Erstaunt hat mich, dass es offensichtlich nur sehr wenige Beispiele innovativer Personalarbeit gibt. Auch die bei uns häufig thematisierten Dinge, wie Homeoffice etc. scheinen hier keine große Rolle zu spielen. Gibt es dafür Gründe? Wie sieht es mit der Veränderungsbereitschaft der Akteure aus?
Herwig: Die Personalarbeit ist dort sehr zahlengetrieben. Man hat manchmal den Eindruck, es regieren Dashboards, die es ausgefeilt zu den unterschiedlichsten Themen gibt. Die Veränderungsbereitschaft ist generell hoch, weil Veränderungen einfach an der Tagesordnung sind. Deshalb ist es auch so wichtig vor Ort im Office zu sein. Automattic (Wordpress) kommt zwar komplett ohne Office aus, leidet aber genau daran, alles online abwickeln zu müssen. Auch das „Gruppengefühl“ fehlt dann. Solange die einzelnen Mitarbeiter im Projekt sind, lautet die Devise: „Get the work done“. Und da es nur wenige regulatorische Einschränkungen (z.B. Arbeitszeitgrenzen) gibt, findet man viele HR-Innovationen im Bemühen, Mitarbeiter so viel wie möglich vor Ort zu haben und so wenig wie möglich vom Umsetzen abhalten. Dafür werden dann z.B. Friseure, Masseure und Kfz-Mechaniker in die Firmen geholt, Lunch und Dinner angeboten oder auch Pendlerbusse (mit Arbeitsfläche und WLAN) zur Verfügung gestellt, um dies zu erreichen.
Viele andere HR-Fragen stellen sich dort einfach nicht: so spielen Learning & Development nur eine untergeordnete Rolle, weil die Mitarbeiter ohnehin im Schnitt längsten 2,5 Jahre bleiben. Dafür beschäftigt halt Recruiting & OnBoarding beeindruckend große HR-Teams.

Peter: Einiges fand ich durchaus interessant, hier z. B. das besondere Gewicht des Onboardings oder auch die Vorgehensweisen beim Recruiting. Was wird dort anders gemacht?
Herwig: Recruiting im Silicon Valley ist echte Beziehungsarbeit und harter Verkauf. Mit Inseraten, wie wir sie kennen, würde man sich dort nur lächerlich machen. Außerdem würde sich darauf ohnehin niemand melden. Viele Unternehmen haben eigene Tech-Recruiter und hängen sich in die einschlägigen Netzwerke der Techies – online wie offline. Ist man als Recruiter in der Szene bekannt und wird einem vertraut, spricht man gerne bei einem Kaffee oder Lunch über mögliche Job-Alternativen. Da ist es durchaus üblich, sich bis zu drei- oder viermal zu treffen, bevor das konkrete Angebot kommt. Vielfach erfolgt zusätzlich ein Background-Check und werden Referenzen eingeholt. Verkauft werden Jobs ausschließlich über Projekte und Vorhaben und nicht als Funktion. Ist dann der neue Mitarbeiter erst an Bord, gilt es diesen im Job zu halten und für die Aufgabe weiterhin zu begeistern. Gerade erst gewechselte Mitarbeiter stehen bei vielen anderen Tech-Recruitern noch auf deren „Liste“. Gefällt es dem neuen Mitarbeiter in der gerade übernommenen Aufgabe nicht, lässt er sich leicht wieder abwerben. Diese „gefährliche Zeit“ kann bis zu drei Monaten dauern.

Peter: Welche Schlussfolgerungen können Personaler insgesamt aus Deinen Erfahrungen ziehen?
Herwig: Man kann dort gut sehen, was HR in einem ausgeprägten Fachkräftemangel bedeuten kann. Recruiting wird Verkauf, Onboarding zum Schlüsselfaktor – mit einer zentralen Botschaft: „Hier gibt es eine coole Aufgabe. Arbeite bei mir, dann hast Du es besser!“ Damit ist HR auch deutlich näher am Business. In Europa reden wir noch darüber, im Silicon Valley ist es bereits gelebter Alltag. Auf der anderen Seite haben wir in Europa viele (gesetzliche) Mindeststandards, die im Valley noch als großartige Zusatzleistung verkauft wird. Viele bieten 14 Tagen bezahlte Freizeit (zusätzlich zu den 2 Wochen Jahresurlaub) an oder freiwillige Krankenversicherungen. Viele dieser Leistungen sind bei uns selbstverständlich. Ich hatte den Eindruck, dass wir in Europa in vielen Dingen (nicht nur auf HR, sondern auch auf Organisationsformen bezogen) schon weiter sind, aber uns einfach besser positionieren und verkaufen könnten. Vom generellen Mindset im Silicon Valley, nämlich „groß Denken“ und „rasch und konsequent Umsetzung“, können wir uns schon eine Scheibe abschneiden.

Peter: Ich gehe davon aus, dass weiterhin viele in das Silicon Valley reisen werden. Was empfiehlst Du Reisenden mit Lernwunsch, die sich nach Dir auf den Weg ins Silicon-Valley machen?
Herwig: Man entdeckt sicher mehr, wenn man mit den passenden Erwartungen sich auf den Weg macht. Und dann genau hinsehen, nachfragen und die eigenen Schlüsse ziehen. Jede Reise in andere Unternehmen und Regionen hat was Bereicherndes, das kann man dann kaum nacherzählen.

Peter: Was können wir aus den Erfahrungen im Silicon-Valley insgesamt lernen? Mir stellt sich dabei oft die Frage, ob es nicht um so etwas wie einen eigenen Weg der HR Innovationen gehen sollte.
Herwig: Auch wenn sich amerikanische und europäische Kulturen ähnlicher sind wie z.B. asiatische, so sind die Rahmenbedingungen hier wie dort ganz unterschiedlich. Ich nehme wahr, dass es in Europa schon viele gute Beispiele für HR Innovationen gibt, aber nur in einem kleinen Kreis darüber gesprochen wird. Wir müssten unsere Innovationen alle viel besser verkaufen; einerseits um zu zeigen, wie es gehen kann, und andern Mut zu machen, sich ebenfalls auf den Weg zu machen. Harald Schirmer ist für mich da so ein großartiges Beispiel. Aber HR und Verkaufen, das hat noch nicht so lange eine gemeinsame Geschichte.

Peter: Ganz herzlichen Dank für dieses Gespräch.

Mein Gesprächspartner Herwig Kummer ist seit über 15 Jahren beim Österreichischen Automobil-, Motorrad- und Touring Club (ÖAMTC) in Wien als stellvertretender Leiter Personalmanagement tätig. Nebenbei engagiert er sich aktiv in der Aus- und Weiterbildung von Personalern. Herwig Kummer betreibt einen eigenen HR-Blog www.personaleum.at und ist einer der Initiatoren des CorporateCultureCamps.


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